Pforten der Nacht
und Entbehrungen gewöhnter Körper vertrug. Sonst wäre er vermutlich niemals auf die Idee verfallen, ausgerechnet hierher zurückzukehren, den altvertrauten Platz aus Kindheitstagen. Inzwischen war der Mond aufgegangen, tauchte den Fluss und das Ufer in sein silbriges Licht. Er ließ die Kutte fallen, watete langsam ins Wasser, das ihn kühl und erfrischend umschmeichelte. Seitdem er im Kloster lebte, war er nicht mehr schwimmen gewesen. Aber jetzt genoss er es. Welche Wohltat, sich schwerelos zu bewegen!
Er legte sich auf den Rücken, ließ sich ein Stück flussabwärts treiben. Dann paddelte er zum Ufer, lief zurück zu der Stelle, wo sein Mönchsgewand lag, und streifte es über. Der raue Stoff kratzte unangenehm auf der feuchten Haut. Plötzlich hielt er verblüfft inne.
Zwei helle Körper, ineinander verschlungen. Schlafend. Innig und erschöpft nach dem Liebesakt.
Das war es, wovor er all die Jahre geflohen war! Und abermals holte es ihn ein. Sofort stiegen wieder die Bilder vor ihm auf, die er so verzweifelt zu vergessen versuchte. Sein Vater, der im weißen Fleisch der Welschen wühlte. Bruno in der Krypta, versunken im leidenschaftlichen Kuss mit Regina Brant. Und jene entsetzliche Fastnacht, in der er seine Liebste mit Gewalt bezwungen hatte.
Er war auf einen Zweig getreten. Bei dem Geräusch fuhren beide hoch, und erst jetzt erkannte er sie.
Anna und Esra.
»Johannes!«, sagten sie wie aus einem Mund.
Er war zu verblüfft, um etwas zu antworten. Weglaufen war sein erster Impuls. Aber die Beine versagten ihm den Dienst. Anna hatte sofort nach dem Unterkleid gegriffen, um sich zu verhüllen. Esra dagegen blieb so, wie er war: ein kräftiger, schöner Mann, unbefangen in seiner Nacktheit.
»Was machst du hier mitten in der Nacht?«, fragte er. »Wieso bist du nicht im Kloster?«
Anna vermied, seinem Blick zu begegnen, schaute angestrengt zur Seite.
»Weil mich seine Mauern sonst erschlagen würden«, entgegnete er leise. »Ich bin erst seit gestern wieder in Köln. Rechtzeitig, um von dem furchtbaren Mord an meinem kleinen Bruder zu erfahren.«
»Wir waren es nicht«, sagte Esra heftig. »Keiner von uns! Auch wenn die ganze Stadt davon überzeugt ist und dein Vater alle glauben machen möchte, die Juden seien es gewesen. Und was den Stern in seinem Rücken betrifft, so muss allein der Erzbischof …«
»Walram ist tot«, unterbrach ihn Johannes. »Ich bin so schnell geritten, wie ich nur konnte, um diese Kunde in die Stadt zu bringen. Er ist vor zehn Tagen in Paris gestorben.«
Er verriet ihnen nicht, wo und unter welchen Umständen. Dass es in einem Freudenhaus gewesen war, wohin Walram sich allnächtlich heimlich geschlichen hatte, nachdem er die Tage mit Johannes und den anderen Mönchen in Gebet und Versenkung verbracht hatte. Und dass es durch die Hand eines Nebenbuhlers geschehen sein musste, den die Eifersucht übermannt hatte. Gerüchte würden ohnehin allzu schnell die Runde machen. Da nützten alle Vorkehrungen nichts, die Johannes Kustos eifrig und umsichtig getroffen hatte. Es gab zu viele, die Interesse daran hatten, dass solche Einzelheiten verbreitet wurden.
Für ihn war es bisher unmöglich, mit dem Erlebten auch nur halbwegs fertig zu werden. War er denn überall von Verfall und Sünde umgeben? Böse, schwere Träume quälten ihn seitdem. Und das Gefühl, selber versagt zu haben. Selbst der scharfe Ritt von Paris nach Köln hatte nichts daran geändert.
»Tot - dann gibt es niemanden mehr in dieser Stadt, der uns noch schützt!« Esra barg sein Gesicht in den Händen. »Das ist unser Todesurteil!«
Seine Verzweiflung rührte Johannes. Er kniete nieder, legte seine Hand auf Esras Arm. »Ich glaube nicht an eure Schuld«, sagte er mit Nachdruck. »Das habe ich auch meinem Vater in aller Deutlichkeit versichert.«
»Und seine Antwort darauf?«
»Du kennst ihn ja. Hinausgeworfen hat er mich, wie einen räudigen Köter. Weil ich in seinen Augen eine weibische Memme bin. Und angeblich nach Mönch stinke. Ich bin nicht der Einzige, den er so behandelt. Keiner aus der Familie darf beim Begräbnis des Kleinen dabei sein. Er sagt, das sei allein eine Sache zwischen ihm, Gott und Luzifer.«
»Vermutlich hält er sich inzwischen selber für Gott«, sagte Anna ruhig. Im Mondlicht war sie blass und fast unwirklich schön. Ihre Augen größer und dunkler als in seiner Erinnerung, die Lippen voll und weich. Ihre Brust hob und senkte sich unter dem dünnen, weißen Stoff. Sie kam ihm vor
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