Pforten der Nacht
wie eine Braut. Aber war sie nicht die Frau des Gerbers? Und hatte trotzdem gerade eben mit Esra das Lager geteilt?
Ein Wirbel unterschiedlichster Gefühle überfiel ihn. Er hätte sie an sich reißen können, sie küssen und in ihrer Weichheit versinken. Gleichzeitig jedoch schämte er sich, dass er noch immer so schwach, so anfällig und verführbar war, obwohl er doch sein ganzes Dasein dem Allmächtigen geweiht hatte. Und es gab noch etwas in ihm, das sich nach oben drängte und das er mehr hasste, als alles andere: heiße, bohrende Eifersucht.
»Kannst du ihnen nicht helfen?« Jetzt schaute sie ihn an, und er konnte das versteckte Feuer in ihrem Blick kaum aushalten.
»Ich?«
»Ja, du. Du bist ein Mönch, du kennst Männer, die Rang und Einfluss in der Stadt haben. Kirchenmänner, Johannes! Es muss doch Einsichtige geben, Leute, die die aufgeregten Massen besänftigen können. Zum Beispiel in einer Predigt im Dom, die alle zur Vernunft ruft. Weißt du denn nicht, was ringsumher geschehen ist und jeden Tag wieder geschehen kann? Die Juden brennen allerorts - und schon um vieles weniger als um den Mord an einem unschuldigen Kind!«
Sie liebt ihn, dachte er und fühlte, wie alle Kraft ihn verließ. Sie liebt ihn wirklich! Deshalb setzt sie sich so für ihn ein. Vielleicht hat sie ihn immer geliebt. Und ihre Gefühle für mich waren nichts als eine Einbildung.
»Ich weiß nicht«, sagte er schließlich, »wenn das überhaupt einer bewerkstelligen könnte, dann einzig und allein Bruno de Berck. Ein Prediger, der mit seinen Worten die Herzen der Menschen erreicht. Und ein Mönch, der Gott liebt.«
Und deine Tante Regina.
Er sprach es nicht aus, aber die Worte kreisten ohne Unterlass in seinem Kopf. Seine Schläfen schmerzten. Er war sehr durstig. Und obwohl er wusste, dass er sich nach noch mehr Wein noch elender fühlen würde, deutete er auf den Krug.
»Darf ich?«
Esra nickte zerstreut. Johannes trank. Am liebsten hätte er nicht mehr aufgehört zu trinken, bis alles in einem mildtätigen Nebel verschwunden war.
»Dann tu es!«, verlangte Anna. »Du musst es tun! Du hast es geschworen.«
»Geschworen - wann?« Jetzt schauten sie beide Männer an.
»Habt ihr das schon vergessen?« Sie klang beinahe zornig. »Das könnt ihr nicht vergessen haben!« Ihre Augen waren schwarz vor Erregung. »Die verbrannte Kapelle damals, und wir drei an jenem heißen Tag im Mai. Kinder waren wir noch, jedenfalls beinahe. Wir haben unsere Arme geritzt, bis Blut kam, und es dann miteinander vermischt: einer für alle, alle für einen! Ihr müsst euch daran erinnern!«
Und als mein eigenes Mondblut floss, zum ersten Mal, und ich eine Frau geworden war. Damals wäre ich beinahe vor Scham vergangen.
Keiner von ihnen hatte es vergessen, das sah sie in diesem Augenblick. Esra wurde ganz bleich, Johannes dagegen bekam rote Flecken im Gesicht.
»Wie sehr musst du mich hassen, Anna.« Seine Stimme war nur ein Flüstern. »Für alles, was ich dir angetan habe. Aber es war nicht meine Absicht. Ich wollte dir niemals wirklich wehtun. Nur, in jener Nacht, da war ich betrunken und verletzt und du so weich und schön und zart, dass ich nur noch wie ein Wahnsinniger …«
»Schweig!«, befahl sie ihm. »Ich hasse dich nicht, Johannes. Schon lange nicht mehr. Immerhin hast du mir meinen kostbarsten Schatz geschenkt.« Ein winziges Lächeln erschien um ihren Mund. »Und sie wird dir von Tag zu Tag ähnlicher, weißt du das? Sie hat dein Lächeln, deine Art zu gehen. Und sie ist ungeduldig und wird mindestens so schnell wütend wie du. Wie also könnte ich dich hassen, wo ich sie doch so liebhabe?«
Sie breitete die Arme aus, und er kam zu ihr. Fest hielt sie ihn umschlossen, wiegte ihn leise, so, wie sie sein Kind viele Male gewiegt hatte. Sie küsste seinen rasierten Kopf, der so schmal und arglos an ihrer Brust ruhte, spürte, wie heiß er war, wie mager.
Esra neben ihr befeuchtete mit der Zunge seine Lippen, unfähig zu sprechen. In ihm tobte ein wilder Aufruhr. Wie lange hatte er Johannes beneidet und eifersüchtig belauert, und jetzt, in dieser Nacht, wo er sein Ziel endlich erreicht hatte, drängte der sich wieder vor, um ihn auf den zweiten Rang zu verweisen! Er machte eine Bewegung. Die beiden fuhren auf, lösten ihre Umarmung.
»Verzeih, mein Freund!« Das war nicht länger die spröde Stimme des Mönchs! So hatte der Kamerad aus Kindheitstagen geklungen, mit dem zusammen er viele lustige und spannende Spiele erfunden hatte.
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