Pforten der Nacht
Erschrocken wichen sie zur Seite. Er ging unbehelligt weiter, bis er vor der Synagoge angekommen war. Dort ließ er das Tuch von dem Toten gleiten und streckte ihn von sich wie eine Trophäe.
»Heraus, ihr feigen Juden!«, schrie er. »Ich will euch zeigen, was ihr meinem Kind angetan habt!«
Ein paar erschrockene Köpfe zeigten sich an den Fenstern.
»Jetzt hat euch wohl die Angst gepackt?« Es war wie ein gefährliches Heulen. »Aber meinen Engel zu schinden, dazu wart ihr mutig genug. Heraus mit euch! Wo habt ihr euch alle verkrochen?«
Esra wollte Jakub zurückhalten, aber der machte sich unwillig frei. »Ich gehe«, sagte er. »Ich muss wissen, was dieser Wahnsinnige da draußen will. Und versuchen, ihn aufzuhalten. Falls es in meiner Macht steht.«
Inzwischen waren mehr und mehr zusammengelaufen, Männer und Knaben, während die Frauen und Mädchen in den Häusern blieben und voller Angst den Atem anhielten.
»Was willst du?«, fragte Jakub fest, obwohl ihn beim Näherkommen eine unerklärliche Bangigkeit überkam. »Wieso fällst du hier einfach ein und störst unsere Ruhe?«
»Eure Ruhe!« Jan jaulte auf. »Und was ist mit seiner Ruhe?« Er machte eine Bewegung, als wolle er Jakub den kleinen Leichnam entgegenschleudern. »Im Blaubach hat man ihn versenkt!«
»Dein Kind ist also ertrunken«, entgegnete Jakub. »Und du musst bestimmt unendlich leiden. Aber wieso kommst du mit ihm zu uns?«
»Er ist nicht ertrunken! Abgestochen hat man ihn, wie eine Sau, die man sorgfältig ausbluten lässt. Aber das ist noch nicht alles. Sieh her, Jude! Dann weißt du, woher ich so sicher bin, dass es einer von euch gewesen sein muss!«
Er drehte das tote Kind langsam um.
Jakub erbleichte. Sah, dass man brutal zwei Dreiecke in seinen Rücken geschnitten hatte, die einen sechszackigen Stern bildeten. Ein Hexagramm, wie es die Christen nannten. Oder fälschlicherweise Davidsstern. Die Juden freilich hatten einen anderen Namen dafür.
»Magen David«, flüsterte er voller Entsetzen, »der Schild Davids!«
»Selbst der wird euch nichts mehr nützen!« Jan van der Hülsts Stimme klang wie Donnerhall. »Der Fluch des Herrn komme auf euch und die euren! Mit eurem Leben werdet ihr dafür bezahlen, das schwöre ich euch beim Leichnam meines Sohnes!«
Er drehte sich um und trug mit schweren Schritten seine leichte Last weiter, direkt vor den Palast des Erzbischofs.
Natürlich fand er sie am Fluss, dort, zwischen den Weiden, an ihrem Platz aus Kindertagen. Anna hatte die Haube abgenommen und trug nur ein dünnes leinenes Unterkleid, das feucht war und damit bewies, dass sie vor Kurzem geschwommen war, um sich Kühlung zu verschaffen. Ihr Kleid aus schwarzem Barchent lag achtlos neben ihr im Gras. Es war noch immer drückend heiß, obwohl der Abend nahte; ein Mückenschwarm tanzte dicht über ihr.
Sie hatte die Augen geschlossen, lag da, gelöst und arglos.
Er spürte, wie der Wein in seinem Schädel kreiste, aber er hatte trinken müssen, viel trinken, um alles überhaupt zu ertragen, wenn er es schon nicht vergessen konnte. Bloß nicht zu schnell wieder nüchtern werden! Deshalb hatte er einen mit Wein gefüllten bauchigen Tonkrug mitgebracht, den er mit äußerster Vorsicht abstellte. So leise wie möglich ließ er sich neben ihr ins Gras sinken.
Nach ein paar Augenblicken schlug sie die Lider auf. Kein Lächeln, als sie ihn erkannte. Aber ihr Blick war warm, nicht abweisend.
»Hier ist nicht das Gerberhaus«, sagte er rasch. Und dann, nach einer winzigen Pause: »Ich musste kommen.«
»Ich weiß«, sagte sie leise.
»Wir haben den kleinen Felix nicht getötet«, fuhr er bitter fort. »Keiner von uns. Das musste ich dir unbedingt persönlich sagen. Und natürlich auch nicht den Stern in seinen Rücken geschnitten. Wir trinken kein Blut und essen kein Menschenfleisch. Und wir quälen auch keine Christenkinder. Welcher Jude würde so etwas schon antun einem wehrlosen kleinen Jungen!«
»Ich weiß«, wiederholte Anna. »Auch Regina weiß es sowie ein paar andere Menschen, die denken können und die Dinge richtig zusammenzählen. Aber irgendjemand möchte, dass man euch die Tat anlastet. Jetzt habt ihr die Richerzeche gegen euch und damit die gesamte Stadt. Jan van der Hülst ist ein mächtiger, gefährlicher Feind. Das hat sogar sein eigener Sohn spüren müssen. Und nun hat er sich euch Juden vorgenommen.«
»Uns Juden!«
Esra lachte bitter auf. Sie roch seinen Atem, als er sich bewegte, roch, dass er viel
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