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Pforten der Nacht

Titel: Pforten der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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ewig! Dich haben alle geliebt, mich dagegen vom ersten Tag an nur verabscheut und gehasst. Aber es gibt noch einen weiteren Unterschied zwischen uns. Dich wird man beweinen und schließlich doch vergessen. Ich dagegen bin Wulfing, der Mann, an den sich diese Stadt noch sehr lange erinnern wird.«
    Er begann heftig zu zwinkern, als sei ihm etwas ins Auge gekommen. Seine Stimme war rau.
    »Vielleicht sehen wir uns eines Tages in der Hölle wieder. Oder doch im Himmel? Wer könnte das schon mit Bestimmtheit sagen?«
    Dann hob er das Messer und stach mit seinem ganzen Zorn zu.
    Am dritten Tag brachte man den Toten in das prächtige Haus in der Kaufmannsgasse. Kinder waren beim Spielen mit hölzernen Stelzen auf das Netz mit seinem furchtbaren Inhalt gestoßen, an einer Stelle im Blaubach, die jetzt zu seicht war, um noch von den Färbern für ihre Arbeit genutzt zu werden. Inzwischen wusste so gut wie jeder in der Stadt, dass Jan van der Hülsts Jüngster vermisst wurde; der verzweifelte Vater hatte sogar eine stattliche Summe für denjenigen in Aussicht gestellt, der ihm das Kind sicher und heil zurückbringen würde.
    Damit nicht genug. Wie ein Wahnsinniger war Jan selber von morgens bis abends durch die Gassen gelaufen, hatte weder Familie noch Gesinde zur Ruhe kommen lassen, war abwechselnd in tiefe Betrübnis verfallen oder in wüste Beschimpfungen, die vor nichts und niemandem haltmachten. Alle hatte er verdächtigt, mit dem Verschwinden des Kindes etwas zu tun zu haben: Rutger und seine Frau Veronika, die er wutentbrannt der Selbstsucht und Habgier bezichtigte, Bela, die er eine nutzlose, versoffene alte Natter schalt, nicht einmal in der Lage, sich um ihr Kind zu kümmern; Nana Tarlezzo, der er unterstellte, sie habe den Erben heimtückisch aus dem Weg räumen lassen, um sich Vorteile für ein eigenes Kind zu sichern, das ja doch niemals das Licht dieser Welt erblicken würde. Die Fleischergesellen, die er arglistig getäuscht hatte und deren Rache er nun fürchtete. Sogar die Begine Regina Brant gehörte zum engsten Kreis seiner Verdächtigen. Hatte sie nicht schon einmal den Kleinen auf wundersame Weise entdeckt, auf die sich keiner einen Reim machen konnte?
    Der kleine Leichnam freilich war alles andere als heil. Die Maden hatten mit ihrem Werk bereits begonnen, dazu kamen die Tage im Wasser, die ihn aufgedunsen und zusätzlich entstellt hatten. Der Medicus, der sofort ins Haus gerufen wurde, stellte fest, dass der Mörder die Halsschlagader mit einem scharfen Messer durchtrennt haben musste. Allerdings verlor sein Gesicht jegliche Farbe, als Jan van der Hülst mit versteinerter Miene den Kleinen umdrehte und er begutachten musste, was man seinem Rücken angetan hatte.
    Dann schickte Jan ihn fort, schickte alle fort. Schloss sich mit dem Toten im großen Festsaal ein, blieb dort, ohne zu essen, ohne zu trinken, ohne auf ein Klopfen zu reagieren. Bela kauerte viele Stunden zusammengekrümmt vor der Tür auf dem Boden und flehte, er solle sie um Jesu willen einlassen.
    »Er ist auch mein Kind!« Seit Felix’ Verschwinden hatte sie die Weinflaschen nicht angerührt. Ihre Augen waren wieder klar wie früher, ihre Stimme kräftig. »Ich habe ein Recht, von ihm Abschied zu nehmen! Ich habe ihn schließlich geboren, ich allein! Jan, Jan, hörst du mich? Um unserer früheren Liebe willen - mach auf!«
    Sie erhielt keine Antwort.
    Schließlich, gegen Abend, sprang mit einem Mal die Tür auf. Jan van der Hülst trat heraus, mit zerzaustem Haar und offenem Hemd, ohne Gürtel, ohne Mantel, mit einem Ausdruck, wie ihn niemand jemals zuvor an ihm gesehen hatte. Auf seinen Armen trug er den Leichnam, den er jetzt gnädig mit einem Linnen verhüllt hatte. Ohne nach links oder rechts zu schauen, ohne sich um die Rufe seiner Familie zu kümmern, die ängstlich vor ihm zurückwich, ging er durch den Hof, dann hinaus auf die Gasse und durch all die Gassen und Straßen, zielstrebig, ohne ein einziges Mal innezuhalten, bis er vor dem Judentor angekommen war.
    Die beiden jungen Männer, schon zur abendlichen Wache angetreten, die sie noch immer abhielten, obwohl die Geißlerhorden vor zwei Tagen endlich in Richtung Bonn abgezogen waren, zückten alarmiert ihre Messer.
    »Was wollt Ihr?«, fragte einer von ihnen. »Was macht Ihr hier zu dieser späten Stunde?«
    »Hinein«, lautete Jans dumpfe Antwort. »Zu eurem Gotteshaus. Um euch den Toten zu bringen. Und nichts und niemand wird mich daran hindern.«
    Er fletschte die Zähne.

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