Pforten der Nacht
dem drohenden Ende auch noch zu Meineid und Zwangstaufe genötigt zu werden. Die unübersichtliche Anzahl der Flüchtlinge, die niemand vor dem Überfall gezählt hatte, machte jede genaue Angabe unmöglich. Was von ihren Leichen noch übriggeblieben war, fand keine Ruhe auf dem jüdischen Friedhof, der die immense Zahl ohnehin niemals hätte aufnehmen können. Jakub ben Baruch und die anderen Rabbiner waren alle tot. Es gab also niemanden, der für sie das Kaddisch gesagt, keinen mehr, der die Särge nach dem Brauch der Väter zur letzten Ruhe getragen hätte.
Verscharrt hatte man sie auf einem aufgelassenen Ackerstück nahe der Stadtmauer, ein Massengrab ohne Namen und Steine, über das jetzt der Wind pfiff und der Regen rann. »Judenbruch«, so nannte man es in Köln hinter vorgehaltener Hand, und wer es einrichten konnte, dort nicht vorbei zu müssen, zumal wenn es dunkel wurde, hielt sich daran. Einige wollten sogar einen großen, grauen Wolf gesehen und gehört haben, der dort nächtens auf dem Gräberfeld umherstrich und den Mond anjaulte. Eine gefährliche Bestie, wie man sich angstvoll weitersagte, vor der man sich in acht nehmen musste, würde sie doch jeden reißen, der es auch nur wagte, sich ihr zu nähern.
Einige wenige Juden hatten den Morgen des Festtages herandämmern sehen, der dem heiligen Bartholomäus geweiht war, versteckt, verwundet, halb tot oder dem Wahnsinn nahe nach den Schrecknissen dieser dunklen Stunden, die der Feuerschein ihres brennenden Viertels so gespenstisch erhellt hatte. Sie machten, dass sie aus der Stadt kamen, soweit sie noch fliehen konnten, was jedoch offensichtlich nur wenigen gelang. Noch Tage später wurden überall in der näheren Umgebung Leichen gefunden, die man so schnell wie möglich beseitigte.
Aber es gab kein Vergessen, obwohl ganz Köln sich bemühte, zum Alltag zurückzufinden. Der Innere Rat hielt seine Sitzungen jetzt im großen Festsaal ab, in dem man sonst hohen Besuch empfing oder die Hochzeiten des ansässigen Adels zelebrierte. Und obwohl man im Kamin ein prasselndes Feuer gegen die unangenehm feuchtkalte Nässe draußen entzündet hatte und zur Stärkung heißen, gewürzten Wein servieren ließ, herrschte alles andere als gute Stimmung unter den anwesenden Vertretern der Richerzeche.
»Wir sollten endlich den Schutt im Judenviertel wegräumen. Nur so kann wieder Gras über diese Sache wachsen.«
Veit Spiegel, ein angesehener Fernkaufmann, reich geworden im Bernsteinhandel und durch den Verkauf kostbarer Pelze, brachte seinen Antrag vor. Andere schlossen sich ihm an; aber es gab auch eine Gegenfront, angeführt von Gero von Blanckenberg.
»Aber nicht, solange wir die Schuldigen an dem Massaker noch nicht gefunden und bestraft haben!«
»Da könnt ihr am besten gleich die ganze Stadt einsperren!« Jan van der Hülst, seit Langem stumm, meldete sich zu Wort. Er hatte blutunterlaufene Augen und war nachlässig rasiert. Seine Stimme klang rau. »Das Volk ist aufgestanden und hat sich wie ein Mann gegen die Juden erhoben. Und wer wollte ihm das schon übel nehmen?«
»Worüber ich mir nicht so sicher bin.« Blanckenberg baute sich vor ihm auf, musterte ihn durchdringend. Ihr alter Streit über den ungeklärten Mordfall vor vielen Jahren war nie wirklich bereinigt worden. Es schien ihm fast Vergnügen zu bereiten, sich wieder mit dem einstigen Gegner anzulegen. »Denn mir ist inzwischen von mehr als einer Seite zu Ohren gekommen, Ihr hättet eine ganze Menge mit dem Überfall zu tun. Was sagt Ihr dazu?«
»Ich?« Van der Hülst machte eine wegwerfende Geste. »Ich habe am Sarg meines Kindes getrauert, als die Meute zu toben begann. Befragt meine Familie, befragt das Gesinde, wenn Ihr mir schon nicht glauben wollt.«
»Es gibt genügend Mittel, um Aufruhr zu schüren«, erwiderte der andere ruhig, »und sich dabei selbst fein rauszuhalten. Geld zum Beispiel, oder Männer, die einem noch einen Gefallen schuldig sind, und vor allem jedoch die richtigen Worte zur richtigen Zeit. Oder wollt Ihr vielleicht leugnen, dass Ihr Euch unmittelbar vor der Mordnacht gewaltsam Einlass ins Judenviertel verschafft und dort vor der Synagoge wüste Drohungen ausgestoßen habt?«
»Keineswegs. Und ich würde es sofort wieder tun. Mein totes Kind war das Pfand. Der Judenstern in seinem Rücken mein Beweis. Und Gott, der Herr, mein Zeuge. Er hat mein Flehen erhört und die Schuldigen ihrer gerechten Strafe zugeführt.«
»Das waren gedungene Mörder, die unter den
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