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Pforten der Nacht

Titel: Pforten der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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einen Moment vergessen. Wir sind hier, um unserem toten Bruder das letzte Geleit zu geben.« Er schaute zu Recha, dann zu Josef und Salomon.
    Der junge Medicus nickte unmerklich. »Das stimmt, aber lass es uns ausnahmsweise trotzdem so machen, wie deine Frau vorgeschlagen hat«, sagte er leise. »Vater würde nicht wollen, dass bei seinem Begräbnis jemandem auch nur ein Härchen gekrümmt wird.«
    »Und der Leichenzoll?«, wollte Jakub wissen. »Was, wenn der Rat Ärger macht, weil er nicht rechtzeitig entrichtet wurde? Sollen wir sie absichtlich provozieren?«
    »Wir können ebenso gut auch hinterher bezahlen«, ergriff Esra mutig wieder das Wort. Recha nickte beifällig. »Ist doch ohnehin nur einer ihrer zahlreichen Versuche, sich an uns zu bereichern oder uns zu demütigen. Oder weshalb hat man uns sonst einen Friedhof außerhalb des Burgfriedens zugeteilt, für den wir durch die ganze Stadt müssen?«
    Alle schlossen sich dieser Meinung an, und schließlich stimmte auch Jakub zu, innerlich freilich wenig überzeugt. In aller Eile wurde der Totengräber benachrichtigt, der das Grab schaufeln sollte. Und kaum kam die Kunde, er sei mit seiner Arbeit fertig, trug man den Toten fort.
    Die Frauen blieben zu Hause, wie es die Sitte gebot, obwohl Recha viel darum gegeben hätte, dem Sarg zu folgen. Aber schließlich galt es, das einfache Totenmahl zu richten, Brot und gekochte Eier, und außerdem konnte und wollte sie Lea nicht allein lassen. Tief in ihr jedoch ließ sie etwas nicht zur Ruhe kommen, und sie sehnte inständig den Moment herbei, wo die Männer und mit ihnen Esra und Jakub wieder wohlbehalten die Schwelle überschreiten würden.
     
    Sie waren kaum auf der Höhe von St. Aposteln, als es immer mehr wurden, die ihnen folgten. Vier Männer, schließlich sechs, dann zehn und mehr. Hier war die Stadt nicht mehr so dicht bebaut wie in Rheinnähe; immer mehr Gärten und sogar kleinere Felder, umstanden von kahlen Hecken, schoben sich zwischen die Häuser.
    Esra, zum ersten Mal in seinem Leben einer der sechs Sargträger, fühlte ihre Anwesenheit wie einen brennenden Stich zwischen den Schulterblättern. Die anderen mussten ebenfalls bemerkt haben, was sich da hinter ihnen zusammenballte. Aber keiner von ihnen sagte ein Wort; nicht einer verlangsamte den Schritt. Schließlich konnte Esra nicht anders und drehte sich doch halb um. Erschrocken fuhr sein Kopf schnell wieder nach vorn.
    Das waren nicht die jungen, übermütigen Gesellen und Lehrlinge, denen es auf eine Mutprobe ankam! Ausgewachsene Männer hatten sich beunruhigend dicht an ihre Fersen geheftet, Männer mit finsteren Gesichtern, zum Teil auffallend schäbig gekleidet. Einige schienen betrunken, zumindest bewegten sie sich leicht torkelnd.
    »Ist das womöglich Armleder?«, fragte er bang. »Oder jener Zimberli mit seiner Rotte?«
    »Bleib ganz ruhig, Junge!« Jakub schien die wachsende Anspannung seines Neffen gespürt zu haben. »Das ist ganz gewöhnliches Gesindel, Wegelagerer und Diebe aus den Schenken entlang der Perlengasse. Sie plustern sich auf, um uns einzuschüchtern, aber sie werden es nicht wagen, uns anzugreifen! Schließlich tragen wir einen Toten zu Grabe. Nicht mehr und nicht weniger als unsre Pflicht und unser gutes, altverbürgtes Recht!«
    In diesem Moment flog der erste Batzen Lehm und klatschte mitten auf den weißen Sarg. Die Kolonne kam ins Straucheln, weil einige weitergegangen waren, andere stehen geblieben.
    Anlass für die Meute, gleich den nächsten Batzen nachzuschicken. Und einen dritten, einen vierten. Viele weitere. Noch war kein Mann getroffen. Nur am Sarg klebte dunkle, feuchte Erde.
    Der Zug kam abrupt zum Stehen.
    »Lasst uns in Frieden!«, erhob Jakub die Stimme. »Wollt ihr einem Toten die letzte Ehre verweigern?«
    »Keineswegs! Denn nur ein toter Jude ist ein guter Jude!«, rief einer der Verfolger grob zurück. Die anderen grölten Beifall.
    »Sollen wir den Sarg absetzen und mit ihnen verhandeln?« Salomons Stimme klang gepresst.
    »Verhandeln? Die wollen Ärger - sonst nichts!«, erwiderte Josef aufgebracht. »Kommt weiter, lassen wir uns nicht provozieren!«
    Kaum hatte er den Satz beendet, da traf ihn ein großer Stein an der Schläfe. Er schwankte, fiel zur Seite. Dabei rutschte der Sarg von seiner Schulter und geriet in bedenkliche Schräglage. Sein Nebenmann, der kräftige rothaarige Saul, hatte entsetzt losgelassen; Jochem, der mittlere, ebenfalls. Krachend schlug der Sarg links auf, so unvermittelt,

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