Pforten der Nacht
letzten Gang trugen: Mütze, Hemd, Hose, Gürtel, Strümpfe und den Gebetsmantel. Danach wurde er in den hellen Holzsarg gebettet.
»Der Staub kehrt zum Staub zurück - wie er gewesen. Der Geist aber zu Gott, der ihn gegeben«, lautete Rechas Antwort. »Die Seele ist unsterblich. Und wenn der Messias kommt, erfolgt die Wiederherstellung des Paradieses.«
»Werden dann die Toten wieder lebendig?« Lea war noch immer nicht zufriedengestellt.
Im Sterbezimmer streute Jakub eine Prise feinen Staubes über den toten Freund, Erde aus dem Gelobten Land, die er für solch traurige Anlässe in einem Säckchen bereithielt. Danach wurde der Deckel geschlossen.
»Das fragst du am besten deinen Onkel«, zischte Recha. »Schließlich ist er der Rabbiner und nicht ich. Oder deinen Bruder, der die heiligen Bücher ausführlich studiert hat. Und jetzt geh zu den anderen Frauen und hilf ihnen bei ihren Vorbereitungen. Ich muss dringend mit Jakub sprechen.«
Sie blieb neben ihrer Nichte, als sie schwerfällig in die Küche humpelte, ließ sich aber nicht anmerken, dass sich ihr dabei das Herz zusammenzog. Nichts blieb ihr verborgen, weder der dünne Schweißfilm, der schon nach wenigen Schritten auf der Stirn der Kleinen stand, noch das mühsam unterdrückte Stöhnen angesichts der Schmerzen, die sie dabei verspüren musste. Der dicke Wollstoff verhüllte gnädig die Schiene und das dürre, unterentwickelte Beinchen, das jetzt schon merklich kürzer als das andere war. Trotzdem konnte jeder es sehen, sogar schon von Weitem. Lea war am Leben geblieben, wie Salomon so richtig gesagt hatte, aber sie musste einen hohen Preis dafür bezahlen.
Energisch machte sie kehrt und wurde erst vor dem Sterbezimmer langsamer. Inzwischen brannte neben dem Sarg bereits das Totenlicht. »Jakub!«, rief sie leise, »komm bitte kurz raus. Es ist wichtig.«
Er sah schmaler und müder aus, als sie ihn je gesehen hatte. Am liebsten hätte sie ihn sofort ins Bett gesteckt und sich dazugelegt, die Arme fest um seinen mageren, heißen Körper geschlungen, um so viel Leben wie möglich in ihn zurückströmen zu lassen. Wenn sie nur daran dachte, wie sie sich fühlen würde, läge er an der Stelle Daniels! Jeder Mensch ist sterblich und das Alter nicht mehr weit, dachte sie betrübt. Irgendwo wartet der Todesengel vielleicht bereits auf mich. Oder auf ihn. Mit aller Kraft verscheuchte sie diese Vorstellung.
»Was könnte jetzt noch wichtig sein?«, fragte er matt. »Wir haben einen Freund zu betrauern.«
»Einen Freund, den ihr noch heute zum Haus der Ewigkeit bringen müsst«, verlangte sie.
»Heute?«, wiederholte er. »Wie kommst du denn darauf? Wir werden diese Nacht Wache bei Daniel halten und ihn morgen zum Friedhof auf dem Judenbüchel bringen. So, wie es der Brauch der Väter seit jeher gebietet.«
»Morgen, am Fastabend, wenn die jungen Burschen Schabernack machen und ihre brennenden Räder durch die Stadt treiben? Hast du vergessen, was im letzten Jahr just an diesem Tag geschehen ist? Dass sie unsere Mauern überwunden und bei Abraham und Gideon alles kurz und klein geschlagen haben? Und da wollt ihr mit dem Sarg auf den Schultern durch die ganzen Christenviertel?«
»Lass mich, Weib«, sagte Jakub ungeduldig, »davon verstehst du nichts. Wieso musst du dich ständig und überall in meine Angelegenheiten einmischen?«
»Weil ich nicht möchte, dass man dich mit einem Loch im Kopf in mein Haus zurückträgt«, versetzte sie ihm. »Geschweige denn mit zerschmettertem Brustkorb. Es genügt, wenn wir einen Toten in der Gemeinde zu beweinen haben, Jakub ben Baruch!«
»Sie hat recht, Jakub«, mischte Josef sich ein. »Wir haben in Straßburg schon mehr als einmal Ähnliches erlebt. Wenn sie erst die Masken tragen, fühlen sie sich stark und unangreifbar. Dann ist niemand von uns mehr vor ihnen sicher. Erst recht nicht in diesen schlimmen Zeiten, wo unser Leben vielen so wenig wert ist.«
»Aber wir können uns doch wehren«, rief Esra, »wir, die Jungen, Starken! Sollen sie nur kommen und wagen, uns anzurühren!« Er ballte seine Faust. Sollten sie doch sehen, diese Christen, was es hieß, ein Jude zu sein! Sie waren nicht schlechter als sie, nicht feiger, nicht minderwertiger. »Dann werden sie schon Augen machen, was passiert!«
»Schweig, Esra!« Zornig erhob Jakub seine Stimme. »Weißt du denn nicht, wo du dich befindest?« Der Junge wurde rot und senkte den Kopf. »Das gilt übrigens nicht für dich allein. Wir alle haben es wohl für
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