Pforten der Nacht
dass sich die rechte Trägerreihe gerade noch in Sicherheit bringen konnte.
Jetzt prasselten die Steine wie in einem Gewitter. Die Verfolger mussten sie mitgebracht haben, denn der Vorrat der unbefestigten Straße wäre allzu schnell erschöpft gewesen. Daniels Freunde versuchten sich zunächst mit Händen und Armen vor der wütenden Attacke zu schützen, bis schließlich Esra als Erster zum Gegenangriff überging.
»Verdammter Feigling!«, schrie er zornig. »Ein Toter kann sich nicht mehr wehren, aber lebendige Juden können gut zielen, stell dir vor! Aus dem Weg, du Jammersack!«
Sein Wurf traf mitten ins Schwarze, genau auf das Nasenbein eines Bärtigen, der nicht mehr ganz nüchtern schien. Wie ein verwundeter Bär brüllte er auf. Ein Schwall hellroten Blutes schoss aus seinen Nasenlöchern.
»Er bringt mich um. Das Judenschwein hat versucht, mich umzubringen!«, brüllte er.
»Worauf wartet ihr noch?«, schrie Esra seine Begleiter an. Wie ein Mahnmal stand ihm das Bild der um Almosen bettelnden Schalantzjuden vor Augen, die sich und ihre Kinder der allgemeinen Lächerlichkeit preisgegeben hatten. Damals waren keine Steine geflogen. Jetzt aber wohl. Auf einmal fühlte er sich wütend und stark. »Sie beten einen Leichnam am Kreuz an, wir ehren unsere heiligen Bücher. Sind wir deshalb schlechter als sie? Sie bluten, wenn wir sie treffen, nicht anders als wir. Sie schreien, wenn sie Schmerzen verspüren. Habt ihr keine Augen im Kopf? Sie sind nicht stark. Sie sind schwach! Also, auf sie! Sollen sie uns doch kennenlernen. Oder wollt ihr etwa wie die Opferlämmer sterben, wie viel zu viele vor euch?«
Die Kumpane des Verletzten hielten bei seinem Geschrei verdutzt inne, nicht sehr lange, aber immerhin lange genug, damit sich die angegriffene Judenschar ebenfalls eines Besseren besinnen konnte. Gemeinschaftlich folgten die anderen Esras Beispiel. Bald flogen die Steine hin und her, es gab Treffer auf beiden Seiten, aber keine ernsthaften Verwundungen mehr. Josef lag noch immer im Straßengraben; bleich, jedoch wenigstens wieder bei Bewusstsein.
Schließlich gelang es den Männern um Esra, sich einen entscheidenden Platzvorteil zu verschaffen. Sie verschanzten sich hinter dem Sarg und trieben die Verfolger mit gezielten Würfen mehr und mehr in die Defensive. Als die Horde merkte, dass ein rascher Durchbruch immer aussichtsloser wurde, trat sie den Rückzug an. Der Letzte, der einen flachen Flintstein schleuderte, allerdings viel zu kurz, um einen von ihnen zu erwischen, war ein zahnloser Buckliger, der anschließend machte, dass er schnellstens in Richtung der Felder davonkam.
Eine Weile blieb es still. Sie schauten den Männern hinterher, die sich wie ein böser Spuk in der Dämmerung verloren. Salomon atmete erleichtert aus.
»Ist ja zum Glück noch einmal gut gegangen! Ich hoffe nur, es gibt kein Nachspiel nach dem Motto: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Das ist so ungefähr das Einzige, was sie sich von unserem Glauben gemerkt haben.«
»Diesen Nachmittag werden sie jedenfalls so schnell nicht vergessen«, erwiderte Jakub, und es klang trotz seiner ernsten Miene beinahe vergnügt.
»An Juden, die sich wehren, anstatt zu kuschen, müssen sie sich vermutlich erst gewöhnen«, fügte Esra mit kaum verstecktem Stolz dazu. »Höchste Zeit, dass sie gleich heute damit beginnen!«
Josef, von seinem Neffen eingehend untersucht, beteuerte, ihm fehle nichts Ernstliches, und bestand darauf, seinen vorherigen Platz wieder einzunehmen. Wieder luden sie sich den Sarg auf die Schultern.
Und diesmal gelang es ihnen, ihn unbehelligt bis zum Haus der Ewigkeit zu tragen, dem jüdischen Friedhof außerhalb der Stadtmauern, wo Daniel ben Mose anschließend nach der Väter Sitte beerdigt wurde, gerade noch rechtzeitig, bevor die feuchte, wolkenreiche Nacht anbrach.
Seine Ruhe währte allerdings nicht lange. Als es zögernd hell wurde und der Regen immer stärker fiel, offenbarte das fahle Licht der Morgendämmerung ein Bild von Grauen und Verwüstung: Gräber waren geschändet, Grabsteine mutwillig umgeworfen und mit Kot beschmiert. Am schlimmsten hatte man dem Platz mitgespielt, wo nur Stunden zuvor Daniel von seinen Gefährten zur letzten Ruhe gebettet worden war: Das Erdreich war abgetragen, der Sarg geöffnet, der Tote herausgezerrt und entkleidet. In seiner Blöße lag er auf dem Boden, das Gesicht nach unten.
Das Schlimmste von allem: Sie hatten ihn gezeichnet. Sein magerer, von langem Siechtum aufgelegener
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