Pforten der Nacht
Langeweile verzogen, die vernichtender war als jeder zornige Ausbruch.
Aber was sollte er jetzt tun? An wen sich noch wenden, jetzt, wo nach all seinem Zaudern kaum noch Zeit zum Handeln blieb? Seine Abreise nach Lucca war für Ostern bestimmt, gleich nach den Feiertagen, wenn die Schneeschmelze vorüber war und die Alpenpässe wieder passierbar. Aber dazu durfte es nicht kommen, nicht, wenn er seine Seele retten wollte!
Plötzlich entspannten sich seine Züge, und eine Spur von Zuversicht kehrte zurück. Vielleicht, vielleicht war doch noch nicht alles verloren! Einen gab es noch, der ihn womöglich vor dem Schlimmsten bewahren konnte: Bruno de Berck, sein Freund und verehrter Lehrer.
Johannes begann loszumarschieren, bevor er sich dessen richtig bewusst wurde. Dann zu laufen. Schließlich rannte er zum Minoritenkloster, so schnell seine Beine ihn trugen, als dürfe er nicht einen einzigen kostbaren Augenblick mehr verlieren.
Das Ringen mit dem Todesengel war vorüber; die kleine Flaumfeder, die man unter die Nase des Sterbenden gehalten hatte, bewegte sich nicht mehr. Daniel ben Mose hatte aufgehört zu atmen. Salomon drückte seinem Vater die Augen zu. Dann schloss er ihm sanft die rissigen Lippen. Sein Gesicht war kaum weniger bleich als das des Toten, das er mit einem weißen Tuch bedeckte, nachdem es von seiner Frau Esther, den Söhnen Aron und Chaim sowie den umstehenden Verwandten und Freunden berührt worden war.
»Gelobet seist du, Gott, unser Herr, König der Welt, der ein Richter der Wahrheit ist …«
Zwei Frauen schlossen die Vorhänge im Haus, verhüllten den polierten Kupferspiegel. Jakub, der die ganze Zeit über halblaut die Gebete gesprochen hatte, fühlte sich plötzlich unendlich müde. Mit Daniel war nicht nur ein Freund gestorben, sondern auch ein kluges Mitglied der jüdischen Gemeinde. Kein Eiferer, sondern ein Mann, der gerade aufgrund seines Glaubens stets zu Mäßigung und Besonnenheit in allen Fragen gemahnt hatte. Esra starrte blicklos auf den Toten. Neben ihm atmete Josef schwer, mit abgewandtem Gesicht, aber er weinte nicht.
Auch dann nicht, als die Männer und Frauen der Chewra Kadischa, der heiligen Vereinigung, mit ihrer Arbeit begannen. Nach einem Gebet entkleideten sie den Leichnam, streckten ihn aus und legten ihn auf den Fußboden, von einem weißen Tuch bedeckt. Danach entfernten sie Laken und Decke seines Sterbebettes. Nun kam das Waschen; ein Topf lauwarmen Wassers wurde sorgfältig über den Körper geleert; ebenso wurden Hände, Füße und Nägel gesäubert, während Jakub halblaut die vorgeschriebenen Psalmen sprach. Zum Schluss erfolgte die Tahara. Dreimal wurde der auf dem Rücken ausgestreckte Körper begossen, dreimal die Worte Mose gesprochen, die zu dieser rituellen Reinigung gehörten.
»Denn an diesem Tag geschieht eure Entsühnung, dass ihr gereinigt werdet; von allen euren Sünden werdet ihr gereinigt vor dem Herrn.«
Im Nebenraum drückte sich Lea enger an den warmen, runden Körper ihrer Tante, der sich so tröstlich lebendig anfühlte. Nun reichte sie ihr beinahe bis zur Schulter; allerdings war Recha alles andere als eine große Frau. Lea war während ihrer langen, gefährlichen Krankheitswochen gewachsen, dabei aber zaundürr geworden wie ein halb verhungertes Vögelchen. Ein Vögelchen freilich mit einem ausgeprägten Willen. Keiner hatte sie dazu bringen können, zu Hause zu bleiben, wo doch die ganze Familie an das Sterbebett Daniels geeilt war. Sie hatte darauf bestanden, mitzukommen, obwohl selbst der kurze Weg zu Salomons Haus mit dem geschienten Bein mehr als beschwerlich war. Dabei war es schwierig genug gewesen, das Holzgestell überhaupt anfertigen zu lassen, und selbst jetzt, nach etlichen Anproben, passte es noch immer nicht optimal.
»Was geschieht jetzt mit ihm?«, wisperte sie, die großen, dunkelblauen Augen weit geöffnet.
»Er wird der Erde zurückgegeben«, flüsterte Recha zurück. »Sie nimmt ihn auf in ihren Schoß. Er ist aus Staub gemacht und wird wieder zu Staub - wie wir alle. Das habe ich dir doch schon hundertmal erzählt.«
»Und dann?«
»Kein ›dann‹! Dort wartet er auf den Tag des Jüngsten Gerichts.«
Ungeduldig schüttelte Lea den Kopf, dass die dicken, schwarzen Zöpfe flogen. »Aber was geschieht mit seiner Seele?«, wollte sie wissen. »Wartet die auch?«
Drinnen hatte man inzwischen den Leichnam abgetrocknet und ihm schweigend das einfache weiße Totengewand angelegt, das alle Juden für ihren
Weitere Kostenlose Bücher