Pforten der Nacht
lautet euer Gebet, wenn ihr echte Reue empfindet. Jeden von euch plagt die Sünde, aber ihr wollt euch von ihr reinwaschen. Deshalb habe ich euch heute kommen lassen. In dieser ganz besonderen Nacht. Ihr seid die Büßer von Köln«, fuhr Walram emphatisch fort. »Die Auserwählten, die den Leib des Herrn am Karfreitag auf ihren Schultern durch die Stadt tragen werden, bis er ins Grab gelegt wird, um von dort in Herrlichkeit wiederaufzustehen.«
Kein Laut. Niemand wagte einen Einwand.
»Kniet nieder und betet mit mir: ›Geliebter Christus, gewähre mir eine Gunst: Lass mich an meinem Leib und in meiner Seele, soweit möglich, deinen Schmerz und deine heilige Passion fühlen!‹«
Sie gehorchten. Ihre Lippen wiederholten die Worte, leise, inbrünstig. Ein zweites, schließlich ein drittes Mal.
Es waren mit ihm vierzehn Männer in Kutten, wie Johannes zählte, nachdem er sich von der ersten Verblüffung erholt hatte und zusammen mit den anderen wieder stand. Keine Mönche, denn kein einziger trug die Tonsur. Sünder wie er, die nun Gelegenheit zur Buße erhielten. Alte. Junge. Magere und Kräftige. Eine Auswahl scheinbar ganz gewöhnlicher Männer, nach denen sich in den Gassen der Stadt niemand umgedreht hätte.
Aber wieso ausgerechnet vierzehn?
Verzweifelt versuchte er, den geheimen Sinn der Zahl zu entschlüsseln. Jesus hatte zwölf Jünger gehabt, und das Jahr umfasste zwölf Monate. Es gab sieben Kardinaltugenden, sieben Todsünden, sieben Sakramente, sieben Wundmale. Die Menschen verfügten über fünf Sinne, und die Zahl der Gestirne belief sich exakt auf …
Auf einmal durchfuhr es ihn wie ein Blitz. Er warf den Kopf zurück. Beinahe hätte er laut aufgeschrien. Johannes hatte das Rätsel gelöst. Er wusste, warum sie vierzehn sein mussten. Nicht mehr und nicht weniger.
Weil der Kreuzweg Jesu exakt vierzehn Stationen zählte.
Sechs
Morgen für Morgen, seit Wochen schon, ging Bela van der Hülst hinunter zum Rhein und schaute den schäumenden blaugrauen Wellen zu. Sie wartete ab, bis Jan ins Kontor geritten war, Rutger endlich sein umfangreiches Frühstück verzehrt hatte und die Mägde bei der Hausarbeit waren. Das war die beste Zeit, um allen unbemerkt zu entschlüpfen, die sie schwach und siech beim Gebet in ihrer Kammer vermuteten. Bela tat nichts, um ihre Umgebung von dieser Ansicht abzubringen. Ganz im Gegenteil. Der Vorrat an exotischem Reispuder, ein Geschenk ihres Gatten, als seine Liebe zu ihr noch stark und lebendig gewesen war, schien ihr ausreichend, um bleiche Hinfälligkeit noch so lange vorzutäuschen, wie es in ihren Plan passte. Sie genoss die ausgiebigen Spaziergänge in der klaren, kalten Märzluft, die sie zu raschem Ausschreiten zwang, wollte sie trotz Walkumhang und festem Schuhwerk nicht frieren. Selbst an den häufigen Regentagen, wo die Sonne sich rar machte und der Himmel nicht einmal gegen Mittag sein Perlmuttgrau verlor, hielt es sie nicht drinnen. Sie musste hinaus, um zu denken, zu beobachten und klar und kühl zu überlegen!
Niemand hätte unter dem einfachen Gewand, dem wollenen Umschlagtuch, das ihr rötliches und noch immer sehr volles Haar verbarg, eine der reichsten Frauen der Stadt vermutet, und ebendiese Maskerade bereitete ihr besonderen Spaß. Wie magisch zog es sie Morgen für Morgen zu den Lastenkränen, um die herum schon hektische Betriebsamkeit herrschte. Seitdem die Stadt Köln ihr Stapelrecht so klug einzurichten gewusst hatte, war jedes vorbeifahrende Schiff gezwungen, die mitgeführten Waren für mindestens drei Tage auf dem Alten Markt anzubieten. Das bedeutete nicht nur große Auswahl für die ansässigen Bürger - zumindest für diejenigen unter ihnen, die es sich leisten konnten, nach Bedarf und Wunsch einzukaufen -, sondern sicherte auch in schwierigen Zeiten die Versorgung mit Getreide, Gemüse, Wein und Wolle. Kisten wurden ent- und beladen, Fässer auf den Kai gerollt, laute Flüche in den verschiedensten Sprachen hörbar. Beinahe begierig lauschte die Frau den Hafenarbeitern, und wenn sie den unverkennbaren weichen Dialekt ihrer Heimatstadt hörte, zog sich ihr Herz in schmerzlicher Aufregung zusammen.
Dann verschwammen die Konturen der soliden Oberländer Schiffe, auf denen der meiste Rheinverkehr abgewickelt wurde, und wurden zu stolzen, schnittigen Seglern, die auch der gefährlichen Meerenge zwischen Frankreich und England trotzen konnten. Sie meinte wieder den Wind zu hören, das Rauschen der Brandung, die schrillen Schreie der Möwen.
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