Pforten der Nacht
Glaubte wie damals die überwältigenden Sterne der Küstennacht zu sehen, das gleichmäßige Licht der großen Leuchttürme, die zu weiten Abenteuern riefen. Einmal ein Mann sein, die Gischt auf der Haut spüren, das Salz des unendlichen Meeres auf den Lippen, bereit zur mutigen Fahrt ins Ungewisse!
Aber es gab auch andere Tage, stillere, besinnliche. Dann reckten sich die plumpen Holzgestelle und wuchsen zu schwindelerregender Höhe heran, bis sie schließlich die Ausmaße des Brügger Stadtkrans angenommen hatten, des Grue, mit seinen stilisierten Kranichfiguren auf dem Halsrücken so berühmt, dass ihn selbst berühmte Maler immer wieder konterfeiten. Plötzlich war sie wieder jung, ein Mädchen, so anmutig und schön und selbstbewusst, dass die Liste der Bewerber um ihre Hand von Jahr zu Jahr immer noch länger wurde.
»Du darfst keinen Mann nehmen, der dich nur um deines Reichtums willen begehrt«, hatte Frans, ihr Vater, ihr immer wieder eingeschärft, für den sie nach dem frühen Tod der geliebten Frau zum Kostbarsten im Leben geworden war. »Mach die Augen auf, sei wachsam, und prüfe sie auf Herz und Nieren - alle!« Sein tiefes, gemütvolles Lachen, das sie noch heute manchmal im Traum hörte. Bei all seinen Geschäften und Aktivitäten war er immer menschlich und integer geblieben. Sie war sein einziges Kind, der wertvollste all seiner Schätze. Am liebsten hätte er sie niemals hergegeben. Keinem.
Denn welcher Mann könnte sie schon so lieben, wie er es tat?
»Und selbst wenn dir keiner gefällt, mein Kind, was schert es dich? Junge, fesche Kerle, um dir in kalten Winternächten die Füße zu wärmen, gibt es in Hülle und Fülle. Dafür brauchst du nicht unters Ehejoch. Denn schließlich bist du Bela de Huggenrode. Du sprichst Deutsch, Italienisch, leidlich Spanisch, spielst Mandoline, tanzt wie eine junge Göttin. Und ganz Brügge liegt dir zu Füßen. Vergiss das niemals!«
Sie hatte nur mit halbem Ohr zugehört, lachend, mit den Gedanken schon wieder bei den abendlichen Festen und Spielen, die er ihr nach Wunsch jede Woche in dem prachtvollen Haus an der Vlamigstraat, nahe dem italienischen Viertel, ausrichtete, verführt von den Annehmlichkeiten eines Lebens, das bequemer kaum hätte sein können, geblendet von dem Trugschluss, ihre Jugend würde unendlich und drei Tage währen. Sie musste sich nicht entscheiden. Besaß sie doch alle Zeit der Welt! Deshalb war sie trotz der gut gemeinten väterlichen Warnungen naiv und vollkommen unvorbereitet, als sie Jan van der Hülst bei ihrer ersten Reise nach Köln begegnete.
Eher wie ein Pirat als ein Kaufmann und Handelspartner des Vaters war er ihr vorgekommen, der Mann mit der breiten Stirn, den buschigen, hellen Brauen, dem langen, gut geschnittenen Mund. Er sprach anders als die Lehrerin, die sie im Deutschen unterrichtet hatte, singender und leicht gedehnt, aber sie verstand ihn mühelos. Blondes, lockiges Haar, so dicht und duftend, dass sie am liebsten sofort mit beiden Händen hineingegriffen hätte. Überhaupt juckte es sie in allen Fingern, ihn an sich zu ziehen, sein festes, männliches Fleisch zu berühren und die Hitze seines Körpers auf ihrem zu spüren, um nur endlich aus dem Blickfeld dieser spöttischen grünlichen Augen entlassen zu werden, die sie anschauten, als sei sie nichts anderes als eine ganz gewöhnliche Dirne aus dem Hafenviertel, die er für ein paar Vierlinge haben konnte.
Keine Spur von dem Respekt, mit dem die anderen Männer sonst zu ihr aufschauten, der Ehrerbietung, der gewohnten Anbetung! Jan betrachtete sie ungeniert und fast schon aufdringlich, wie der erste Mann die erste Frau, und genauso fühlte sie sich. Als Weib, sehnsuchtsvoll, gierig, bereit, jede Vorsicht und alle Ratschläge hinter sich zu lassen.
Und wie klug er es angefangen hatte!
Schürte erst das Feuer mit Blicken und verstohlenen Gesten, bis sie kaum noch atmen konnte und den ganzen Tag keinen einzigen Gedanken fasste, der nicht Jan geheißen hätte, Jan. Und wieder Jan. Lud Frans und sie in sein Haus ein, bewirtete sie mit köstlichen Speisen und erlesenen Getränken und ließ ganz nebenbei fallen, wie sehr die Hand der sorgenden Frau hier allerorts fehle. Fasste sie um die Taille, als der Vater zum Abtritt musste, gerade lang genug, um ihren Mund so zart zu küssen, dass es ihr im Nachhinein wie ein Traum vorkam.
Dann wieder Kälte, Gleichgültigkeit, nicht eine Nachricht, tagelang. Nächtelang. Sie wütete, weinte, tobte, verließ die
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