Pforten der Nacht
Arbeit erleichtert. Kompliziert und teuer. Aber wirkungsvoll.« Das konnte er ihr guten Gewissens verraten. Das andere, das ihn seit Tagen in Verzückung versetzte und nachts nicht mehr zur Ruhe kommen ließ, behielt er lieber für sich. Wenn sie erst einmal Ardins Frau war und wohlversorgt unter seinem Dach lebte, war dafür noch immer genügend Zeit. »Ohne diese Walkmaschine hätten wir über kurz oder lang alle Aufträge verloren …«
»Regina hat es mir geschenkt, mir allein, hörst du!«
»Da siehst du, wie selbstsüchtig sie ist!«, mischte Hilla sich ein. »Denkt nur an sich von früh bis spät! Und was ist mit uns, die wir dich so lange durchgefüttert haben? Wir sind seine Familie, nicht du! Sollten wir alle verhungern, während du die feine Dame spielst?«
»Aber hinter meinem Rücken mein Eigentum verscheuern - das ist fein, ja?«
Anna spürte, wie der Zorn langsam zerrann und mehr und mehr tiefer Mutlosigkeit Platz machte. Sie war verloren, ausgeliefert. Reginas nobles Geschenk war umsonst gewesen. Wie ein Tier in der Falle fühlte sie sich. Denen neben ihr, neben denen sie groß geworden war, schien jeder Tag willkommener, an dem sie sie früher loswurden. Und der andere, der alte Mann dort drüben auf der Ofenbank, bildete sich ein, er würde sie billig bekommen, weil sie so gut wie wertlos war.
Wenn er erst wüsste, wie wertlos! Ein bitteres Lachen steckte in ihrer Kehle und wollte unbedingt nach draußen. Kein Haus, kein Stückchen Freiheit, keine Mitgift für den Konvent. Alles verloren. Nicht einmal die Jungfernschaft besaß sie noch. Der Gerber würde sich im günstigsten Fall beschädigte Ware einhandeln, und sie hatte die allergrößte Lust, ihm das mitten in sein gerötetes, verlegenes Gesicht zu schreien.
Ein Geräusch an der Tür ließ Anna zusammenschrecken. Ursula hatte sich hereingeschlichen, leise und geschmeidig wie eine Katze. Nicht zum ersten Mal übrigens. Lautlose Schritte und stummes Lauschen schienen ihr ganz besonders zu liegen. Das Mädchen lächelte schief, offenbar äußerst zufrieden mit dem, was sie soeben vernommen hatte.
Und plötzlich war das letzte fehlende Steinchen da, das in Annas Mosaik passte. Ursula war es gewesen, sie und niemand anders! Die kleine Bettlerin musste Regina und sie im Beginenhaus belauscht und Hermann alles peinlich genau hintertragen haben. Vielleicht hatte sie auch die Schreinskarte gestohlen. Oder ihm heimlich Zutritt zu Reginas Kammer verschafft.
Annas Traum von der Freiheit war zu Ende. Verschwendet als billiges Pfand für ein Dach über den Kopf, zwei Mahlzeiten am Tag und Kleidung für ein ganzes Jahr.
Die halbe Stadt war seit der Nacht auf den Füßen, und jetzt, nachdem eine blasse, kalte Frühlingssonne zögernd über dem großen Fluss aufgegangen war, spürten viele, wie müde sie eigentlich waren. Aber der Erzbischof von Köln hatte sein Ziel erreicht. Noch nie zuvor waren so viele unterwegs gewesen, niemals hatte es in der Geschichte der Stadt eine frömmere, eine innigere Karwoche gegeben. Erst der glorreiche Einzug an Palmsonntag, dann die Fußwaschung an Gründonnerstag, zu der es Hunderte gezogen hatte, und nun als krönender Abschluss diese Prozession, die keiner vergessen würde, solange er lebte!
Es gab kein Zurück, keinen Ausweg. Nur ein Vorwärts, ein drängendes Voran. Wie ein einziger zuckender Leib schob sich der schier endlose Zug durch die Gassen von Köln, von Kirche zu Kirche, von Kreuzwegstation zu Kreuzwegstation. Wurde länger, dichter, breiter. Schien sich ständig auf wundersame Weise zu vermehren, anzuwachsen wie ein lebendiges Wesen. Zwölf Etappen hatte er schon zurückgelegt; war feierlich in die Kirchenschiffe eingezogen und nach inbrünstigen Gebeten vor dem Altar nicht minder feierlich wieder hinausgeleitet worden. Nun standen noch St. Ursula aus und als letzte und endgültige Station der Dom, St. Peter, dort, wo der Leichnam Christi vom Kreuz genommen und bis zur Auferstehung in der Osternacht in seinen Sarg gebettet werden würde.
Angeführt wurde der Zug von vierzehn Männern in schwarzen Kutten, die, wie in Walrams Vision, auf ihren Schultern den hölzernen Leib Jesu trugen. Um die Last einerseits noch schwerer zu machen, andererseits jedoch gerechter auf alle zu verteilen, hatte man das Kruzifix auf eine riesige Eichenplatte montiert, beschwert mit massiven Eisenplatten, von der aus es steil gen Himmel ragte. Die Büßer ächzten schweißüberströmt und mussten immer häufiger stehen
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