Pforten der Nacht
bleiben, um nicht von ihr erdrückt zu werden, aber trotz allem Wanken, trotz aller Erschöpfung hatte bis jetzt noch keiner von ihnen aufgegeben. Mitleidige am Straßenrand reichten ihnen Becher oder tränkten die aufgerissenen Lippen mit einem nassen Schwamm. Inzwischen taumelten die meisten wie in Trance, spürten ihre Schultern kaum mehr, bewegten die Beine rein mechanisch. Aber es gab kein Halten. Dem ersehnten Ziel trieb es sie zu, der lockenden Vergebung, die sie endlich von aller Sündenschwere reinwaschen würde.
Dreizehn der Köpfe schützte die schwarze Kapuze, und auch die Scheitel derer, die mit großen Kerzen oder selbst gefertigten kleineren Kruzifixen den Anführern folgten, waren bedeckt. Einem aber war sie herabgefallen, oder er hatte sie als lästig empfunden und abgestreift. Er zeigte sein Gesicht.
Anrührend jung war es, schmal und bleich, und die hellbraunen Augen leuchteten in heiliger Verzückung. Seine Lippen murmelten ohne Unterlass die schmerzhaften Geheimnisse des Rosenkranzes. Freilich hatte er sie leicht abgewandelt. Auf seine ganz eigene Weise. Denn er sprach den Gekreuzigten unmittelbar an. Und er glaubte zu hören, wie der Heiland ihm direkt antwortete. Seligkeit erfüllte sein Herz, jede seiner Zellen. Wenn Christus alle Menschen zu ihrem Heil führte, dann nur durch die Häufung seiner Schmerzen. Er war das Opfer, das Lamm, das die Schuld der ganzen Welt auf sich genommen hatte.
Und ihn, seinen Auserwählten, ließ er daran teilhaben.
»Jesus, der du für uns Blut geschwitzt hast
Jesus, der du für uns gegeißelt worden bist
Jesus, der du für uns mit Dornen gekrönt worden bist
Jesus, der du für uns das schwere Kreuz getragen hast
Jesus, der du für uns gekreuzigt worden bist …«
Er schwitzte selber Blut, so angestrengt war er. Die Kutte klebte ihm am Leib wie eine zweite, dunkle Haut. Der Einzige im langen Zug, der barfuß ging. Seine bloßen Füße waren zerschunden und blutverkrustet. Er schien es nicht einmal zu spüren.
Manche der Bürger, die Schulter an Schulter die Gassen säumten, bekreuzigten sich unwillkürlich bei seinem Anblick, alte Frauen begannen zu weinen, Kinder suchten die Hand ihrer Eltern. Andere sanken auf die Knie oder beugten ihr Haupt. Etwas Zwingendes ging von ihm aus, ein Bann, dem man sich nur schwerlich entziehen konnte.
Aber es gab auch zwei, die sein Anblick schaudern machte, ein Mann und eine Frau, durch ein unsichtbares Band miteinander verknüpft, gegen das sie seit vielen Jahren nicht richtig ankamen. Regina Brant, die zusammen mit anderen Beginen in der Minoritenkirche gebetet hatte, umklammerte ihren Rosenkranz, als sie den barhäuptigen Büßer hereintaumeln sah. Für sie waren seine Augen gefährliche, dunkle Tröge, seine Miene erinnerte sie an jene Verrückten, die kurz vor dem Veitstanz standen. Unwillkürlich schob sich Annas müdes, sorgenvolles Gesicht vor seines, und sie empfand ihr eigenes Versagen bitterer als in den vergangenen Wochen.
An ihr wäre es gewesen, an ihr allein, den ersten Schritt auf das Mädchen zuzutun, aber aus Gründen, die sie selber nicht einmal genau hätte benennen können, hatte sie es nicht getan, sondern wieder und wieder hinausgeschoben. Wir müssen reden, dachte sie, hätten uns längst aussprechen sollen, anstatt uns weiterhin auf diese bockige Weise anzuschweigen.
Dem musste ein Ende gesetzt werden - und zwar rasch! Die Fastenzeit war beinahe vorüber. Anlass genug, um nachdrücklich die Auseinandersetzung mit Anna zu suchen. Die Auferstehung des Herrn jedenfalls wollte sie mit leichterem Herzen erleben. Und was für sie galt, gönnte sie dem Mädchen erst recht.
Bruno de Berck traute seinen Augen nicht, als er sah, wer den Büßerzug anführte. Walram und seinen Bütteln war es bis zum letzten Moment gelungen, dieses Vorhaben - und erst recht die Identität derer, die mitzogen - geheimzuhalten. Brunos Herz zog sich in Sorge und Aufregung zusammen.
Das ist der falsche Weg, mein Sohn, dachte er schmerzlich, so begegnest du nicht deinem Erlöser, den du so sehnlich suchst. Wie oft nimmt die Versuchung das Antlitz und die Stimme Gottes an, um unsere Seele irrezuleiten!
Er versuchte, in Blickkontakt mit dem jungen Büßer zu treten. Vergeblich. Der war trunken von Gott oder dem, was er dafür hielt.
Satan steht am Kreuzweg, dachte er bitter, und versucht uns in wechselnder Gestalt. Mal als Weib, mal als schöner Jüngling, mal als hoher geistlicher Herr, der nur an seine eigenen Vorteile
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