Pforten der Nacht
denkt. Aber wir dürfen keinen Krieg entfesseln, nicht einmal gegen jene. Sondern, wie Franziskus gesagt hat, die Liebe verkünden und in Eintracht leben im brüderlichen Bund mit der ganzen Welt.
Tränen liefen über seine Wangen. Am liebsten hätte er dem Jungen dort drüben die Last abgenommen und auf seine eigenen Schultern geladen.
Aber er wusste, dass er das nicht tun durfte.
Anna, die erst in den Morgenstunden mit Kati, der Nachbarin, auf die Gasse gekommen war, um den Zug nicht zu versäumen, erschrak, als sie eben jenes Gesicht im Büßerzug sah. Johannes, war ihr erster Gedanke, und Furcht und Zorn und Liebe überfluteten sie gleichzeitig. Johannes! Mein Johannes!
Aber sie fand ihren Johannes van der Hülst nicht mehr in diesen ekstatischen, entrückten Zügen. Das war nicht mehr der schöne, stolze Junge, den sie heimlich geliebt hatte, seitdem sie denken konnte! Aber auch nicht der betrunkene, geile Mann, der sie in der Fastnacht vergewaltigt hatte, ohne sich um ihren Schmerz zu kümmern. Ein Fremder war es, der sich so langsam, so schwankend vorwärtsbewegte, dass man Angst haben musste, er würde schon beim nächsten Schritt vor Erschöpfung straucheln und hinfallen.
Sie konnte seinen Anblick keinen Augenblick länger ertragen. Anna musste sich abwenden, sie spürte, wie Tränen in ihre Augen schossen. Es gab keine Rettung, keine Hoffnung mehr. Sie hatte ihn verloren, das wusste sie in diesem Augenblick, für immer verloren. Ihr Gesicht war kreidebleich geworden. Die Hände zitterten. Nie zuvor waren ihre Augen so groß, so dunkel gewesen.
»Was hast du?«, fragte Kati mitleidig. »Wieder der leidige Magen?«
Anna nickte schwach, beugte sich zur Seite und erbrach in einem grünlichen Schwall die paar Löffel Grütze, die sie bei Sonnenaufgang mühsam hinuntergewürgt hatte.
Auch Bela van der Hülst ließ der Gedanke an Johannes nicht mehr los. Sie wartete, bis die feierliche Grablegung im Dom vorüber war. Dann schlang sie sich ein Tuch um den Kopf und schlich sich aus dem Haus. Ihre Nachricht hatte ihn erreicht, das wusste sie. Aber bis zum letzten Augenblick war sie sich nicht sicher, ob der Lombarde auch wirklich kommen würde. Als sie jedoch den alten Wollschuppen am Weschbach betrat, zu dem sie ihn bestellt hatte, war er schon da.
»Ihr habt Euch eine Menge Zeit gelassen, Frau Bela«, sagte er zur Begrüßung. »Denn meine Pfade in Köln verfolgt Ihr ja schon seit längerer Zeit mit Interesse, wie mir zu Ohren gekommen ist.«
Aus der Nähe war er jünger und straffer als in ihrer Vorstellung. Er hatte schulterlanges, dichtes braunes Haar, eine zierliche Nase, ein schlankes, männliches Gesicht. Und seltsame goldfarbene Augen, in denen man sich verlieren konnte, wenn man nicht aufpasste.
»Ich bin gekommen, um über meinen Sohn zu sprechen«, sagte sie ohne Umschweife. »Er soll nach Lucca. Zu Pandolfini, wie Ihr wisst. Und ich, ich …«
Sie konnte nicht weiterreden. Das Bild des ekstatischen Büßers mit dem bloßen Kopf war noch zu übermächtig in ihr. Sie hatte gefürchtet, ihren Jüngsten an ein fremdes Land zu verlieren, an Menschen, von denen sie nicht wusste, ob sie gut für ihn waren. Aber jetzt, jetzt schien sie ihn an eine Macht abgeben zu müssen, die stärker war als sie.
»Ihr habt Angst um ihn, nicht wahr?« Datinis Stimme war sanft. »Welche Mutter hätte das nicht, wenn die Kinder das Haus verlassen und hinaus in die Welt gehen?«
Seine Stimme war sanft. Zu sanft! Wollte er sich bei ihr einschmeicheln? Das würde ihm nicht gelingen! Belas Widerspruchsgeist erwachte. Noch war nichts verloren! Sie war entschlossen, um Johannes zu kämpfen.
»Ohne Eure tätige Mithilfe bliebe er hier bei mir, und ich müsste mir keine Sorgen machen«, erwiderte sie schneidend. »Was hat mein Mann Euch dafür bezahlt, damit Ihr den Lehrvertrag einfädelt?«
»Nun«, der Karwertsche lächelte leise, »sagen wir, ich war ihm einen kleinen Gefallen schuldig. Außerdem helfe ich gern. Wenn ich kann.«
Belas Brauen schnellten nach oben. »Dann wird es keine allzu große Mühe für Euch sein, mir ebenfalls behilflich zu sein. Anderenfalls sehe ich mich gezwungen, gewisse Wahrheiten allgemein bekannt zu machen. Wahrheiten über einen gewissen Paolo di Marco Datini, die seinem Ruf und einem weiteren Auskommen in der Stadt womöglich nicht gerade dienlich wären. Es gibt mehr als einen ehrbaren Bürger in Köln, die es sehr ernst mit diesen Dingen nehmen. Besonders, wenn es sich um Fremde
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