Pforten der Nacht
groben Holzpantinen. Langsam knöpfte sie ihr Kleid auf, ließ es auf den Boden gleiten und bückte sich dann doch noch einmal, um es sorgfältig zusammenzulegen.
Dann ging sie zum Wasser. Watete langsam hinein.
Es war eisig, erschreckend kälter als in ihrer Erwartung. Ihre Brustwarzen zogen sich zusammen, dunkler und um vieles empfindlicher, seitdem sie Johannes’ Kind trug, das seinen Vater niemals kennenlernen würde. Ihre Knie wurden nass, dann die Schenkel, der feste Stoff klebte unangenehm am Bauch.
Schließlich stieß sie sich beherzt ab. Ich komme, Großmutter, dachte sie und tauchte den Kopf unter. Gleich bin ich bei dir! Kälte drückte auf ihren Kopf, machte ihn hart und klein. Der Atem wurde knapp, und bevor sie richtig denken konnte, vollführten Arme und Beine die gewohnten Schwimmbewegungen.
Plötzlich war sie wieder oben, hatte sich nicht einmal allzu weit vom Ufer entfernt. Ob sie einen Stein ins Unterkleid hätte nähen sollen? Aber dazu war es jetzt zu spät.
Entschlossen und mit aller Anstrengung tauchte sie ein zweites Mal nach unten. Ihre Brust schmerzte, ihre Glieder wurden lahm. Der Auftrieb war ungewöhnlich stark, beinahe, als ob es eine unsichtbare Macht gäbe, die sie nach oben drängte, zum Licht. Prustend war sie abermals über Wasser.
Sie versuchte es ein drittes, ein viertes Mal. Umsonst. Anna ruderte mit den Armen, spürte, wie die Kälte immer mehr nach innen drang. Ein paar Augenblicke noch, und sie würde langsamer werden und schließlich doch ganz nach unten sinken, auf den Grund, wo niemand sie finden würde, bis der Fluss sie als Leiche wieder freigab. Mehr als eine hatte sie davon gesehen, bei ihren kindlichen Spielen mit Johannes und Esra. Aufgetrieben waren sie, gedunsen, entstellt. Binnen Kurzem würde das Gleiche mit ihr geschehen.
Und ihre Seele für immer im Reich der Finsternis schmoren.
Da war sie, Michas Stimme, so klar und deutlich, wie sie sie schon lange nicht mehr gehört hatte! Sie durfte es nicht tun. Was sie vorhatte, war entsetzlich, eine Todsünde, niemals zu vergeben. Entsetzen ergriff sie. Es war eine Sache gewesen, sich das Ertrinken in Gedanken auszumalen, eine ganz andere, hier zu rudern und dabei zu spüren, wie der Tod mit kalten, nassen Fingern nach ihr griff. Und nach ihrem unschuldigen Kind.
Nein, sie würde leben. Beide würden sie leben!
Wie wild schlug sie um sich, drehte sich um, hielt gegen die Strömung auf das Ufer zu. Zitternd kroch sie heraus, blieb zu Füßen eines Holunderbusches eine Weile im Gras liegen, das sich langsam im hellen Sonnenschein erwärmte. Danach stand sie auf, lief am Ufer flussaufwärts, bis sie wieder bei ihrem abgelegten Kleid angelangt war, zerrte es sich über den nassen Körper und machte sich auf den Weg zurück in die Stadt.
Sie musste nicht weit gehen, bis sie im Gerberviertel angekommen war. Überall in den Bächen waren flussabwärts Pfähle eingerammt, an denen die Häute zum Wässern festgebunden wurden. Von den Werkstätten aus ragten schmale Stege in das Wasser hinaus. Der Verwesungsgeruch und die Ausdünstungen nach Fischtran, Urin und Tierkot nahmen ihr beinahe den Atem, aber sie ließ sich nicht aufhalten, bis sie ihr Ziel erreicht hatte. Ardins Haus verriet sein Handwerk auf den ersten Blick: Jahrzehntelang verwendete Lohe hatte die Verbretterung der Seitenwände dunkelbraun gefärbt.
Die Tür stand angelehnt; Mägde oder Knechte waren nicht zu sehen. Sie ging hinein, ohne anzuklopfen, direkt in die gemütliche Wohnstube, wo sie ihn beim Frühstück fand. Er trug einen Hausmantel aus hellem Stoff, hatte das Haar geschnitten, den Bart gestutzt. Verblüfft starrte er sie an, brachte kein Wort über die Lippen.
Anna schaute an sich herunter und musste laut lachen. Kein Wunder, dass man ihr auf der Straße so merkwürdig nachgesehen hatte! Das Kleid klebte ihr am Leib, die Haare hingen feucht und zottelig herunter; fehlte nur noch, dass sich zu ihren Füßen eine Lache gebildet hätte - sie sah aus wie eine Vogelscheuche, die tagelang im Regen gestanden hatte! Der Duft nach frischem Brot erfüllte den Raum, und sie spürte, wie hungrig sie war.
»Darf ich mich setzen?«
Leonhart Ardin nickte, noch immer stumm.
»Und etwas essen?«
»Aber ja. Natürlich. Bitte bedien dich.«
Sie schnitt sich eine dicke Scheibe ab, stopfte sich ein Stück fetten Käse in den Mund. Wärme erfüllte sie, Leben. Beinahe so etwas wie Freude.
»Du kannst mich haben, wenn du mich noch willst«, sagte sie kauend
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