Pforten der Nacht
und griff zum zweiten Mal nach dem Brotlaib. »Allerdings bekommst du mich nicht alleine.«
»Willst du damit etwa sagen …«
Er schien nicht nur seine Sprache, sondern auch seine Fassung allmählich wiedergefunden zu haben. Seine Haut war faltig, seine hellen Augen aber blickten freundlich und wach. Konnte sie mit diesem Mann leben, den sie nicht liebte? Ein letztes Mal krochen die Zweifel, die alten Ängste in ihr hoch. Dann befahl sie ihnen liebenswürdig, aber bestimmt, zu verschwinden. Es gab keine Wahl mehr. Bei Hilla und Hermann konnte sie nicht bleiben. Dieser Gerber und sein Haus waren ihre einzige Zuflucht.
»Ja«, unterbrach sie ihn. »Ich bin schwanger und brauche einen Vater für mein Kind, das zum Ende des Jahres geboren wird. Der, von dem es stammt, weiß nichts davon und wird auch niemals etwas darüber erfahren. Darauf gebe ich dir mein Wort. Wenn du an seine Stelle treten willst …«
Sie packte den Krug, trank einen großen Schluck Most, der frisch und leicht säuerlich schmeckte, viel besser als Hillas bitteres Gesöff. Es würde sich angenehm an seiner Seite leben lassen. Und sicher und friedlich dazu. Wenn schon nicht für sie, dann zumindest für das kleine Wesen, das in ihr wuchs. Wieder meinte sie eine unsichtbare Bewegung zu spüren, nicht in ihrem Leib, dafür war es zu früh, aber um ihre Schultern. Micha, dachte sie und hätte beinahe vor Erleichterung zu weinen begonnen, Micha, danke! Es ist gut, dass du da bist. Dass wir noch am Leben sind!
»Du hast dir das alles gut überlegt?« Seine Miene war gelassen, verriet aber nichts über das, was in ihm vorging. »Und gründlich dazu? Eine Heirat ist schließlich keine Entscheidung für ein paar Tage. Und an einer Scheinehe bin ich nicht interessiert.« Sein Ton wurde bestimmter. Er schien mehr Temperament, mehr Willenskraft zu besitzen, als sie ihm zugetraut hatte. »Wenn du mein Weib wirst, Anna, dann will ich dich ganz. Nicht nur als Meisterin.« Ardins Lippen begannen unmerklich zu zittern. »Du weißt, was ich damit sagen will.«
»Ganz? So viel verlangst du? Gut, du sollst mich ganz haben! Allerdings musst du wissen, da ist etwas Kostbares in mir zerbrochen, das vielleicht nie mehr heil wird …«
Ihr Blick verschwamm, glitt in weite Ferne. Ein schmales, blasses Gesicht. Brennende braune Augen. Johannes war nach Lucca geschickt worden, um ein Kaufmann zu werden. Sie aber wusste, dass seine Seele andere Wege suchte, Wege, auf denen er für sie auf ewig verloren war. Sie musste lernen, damit zu leben. Auch wenn sich die Wunde niemals ganz schließen würde. Und der Schmerz nie heilte.
Langsam nur kam sie wieder in die Gegenwart zurück, roch das Brot, sah das Sonnenlicht in der Stube. Der Mann ihr gegenüber, der sie fast flehend betrachtet hatte, lehnte sich wieder entspannt zurück. Ihre Stimme war sanft, aber fest, als sie weitersprach.
»Ich liebe dich nicht, Ardin, eine gute Frau jedoch kann und werde ich dir sein. Das gelobe ich. Und ich will dich immer ehren, solange du für mein Kind sorgst. Das ist alles, was ich dir versprechen kann.«
Er legte seine große, schwielige Hand auf ihre.
»Ich heiße Leonhart«, sagte er. »Nach dem Bruder meiner Mutter. Eine alte Familientradition, Anna. Wenn es ein Junge wird, so möchte ich, dass er meinen Namen trägt. Als mein Sohn. Und mein Erbe. Ich habe mir immer ein Kind gewünscht. Solange ich denken kann.«
Sie sah ihn an. Seine Augen waren von einem strahlenden, ungewöhnlich hellen Blau. Plötzlich wünschte sie sich, das Kind würde die braunen Augen seines leiblichen Vaters haben. Und wenn es das Einzige wäre, das sie an ihn erinnerte!
»So soll es geschehen«, sagte sie schließlich leise. »Wenn es ein Sohn wird.«
ZWEITES BUCH
Die Stadt
Acht
Johannes van der Hülst war einfach alles an Lucca verhasst: die fruchtbare Ebene, in der es lag, geschützt von einer mächtigen Steinmauer, die schattenspendenden Platanen, die im Winter skurrile Formen zeigten, seine roten Ziegeldächer über den mehrgeschossigen Patrizierhäusern, die marmorweißen Kirchen, der schachbrettartige Straßenverlauf, der noch von der alten Römersiedlung herrührte. Die ganze Atmosphäre der Stadt, die seine Bewohner selbstgefällig und mit nicht geringem Stolz als dulce bezeichneten.
Bald nach seiner Ankunft sehnte er sich bereits nach den engen, schmutzigen Gassen Kölns, den regnerischen Wintern seiner Heimat, ihren durchsichtigen Herbsttagen und vor allem den Sommerabenden am Rhein, wo
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