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Pforten der Nacht

Titel: Pforten der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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etwas an dem dran sein, was die Leute raunen? Ich meine nicht nur das mit den Hostien, sondern was man über die kleinen Kinder sagt, die sie angeblich fangen, um sie zu …« Sie verstummte abermals. »Hältst du das für möglich? Alles in mir sträubt sich dagegen, so etwas auch nur in Betracht zu ziehen, vor allem, dass Menschen wie Jakub oder Recha derartige Scheußlichkeiten billigen sollten, aber wenn es doch alle ganz fest behaupten …«
    Regina blieb zunächst die Antwort schuldig. Aber da war wieder dieser kühle, forschende Blick, der bis in Annas Innerstes drang und den sie mehr als alles auf der Welt fürchtete. Sie begann an der Kleinen herumzunesteln und weckte sie dabei auf. Sofort rutschte Flora von ihrem Schoß und nahm erneut ihre Suche nach der grauen Katze auf.
    »Welch ein Unsinn!«, sagte die Begine schließlich resigniert, »es macht mich ganz matt und elend, dass sogar jemand wie du solche Worte überhaupt in den Mund nimmt! Anna, lass dir vom bösen Geschwätz der Leute nichts vormachen! Das kommt nur daher, weil die meisten zu dumm und unwissend sind, um einen Buchstaben vom anderen zu unterscheiden! Könnten sie lesen, dann wüssten sie, dass weder im Alten noch im Neuen Testament etwas davon steht, dass Juden begierig nach Menschenblut wären. Und gebrauchten sie ihre Augen, die der Allmächtige ihnen aus Güte geschenkt hat, dann hätten sie längst gemerkt, dass sie sich sogar vor der Befleckung mit jeglichem Blut hüten. Die Juden hier und andernorts wollen nichts anderes als wir alle: in Frieden leben.«
    »Wir müssen nach Hause«, sagte Anna, froh um den Vorwand, weil sie sich streng gescholten fühlte. »Leonhart hat es gern, wenn die Suppe pünktlich auf dem Tisch steht.«
    Regina nickte zerstreut, als sei sie tief in Gedanken, gab ihr Salbe und Tinktur und brachte sie persönlich zur Pforte. Die fromme Schwester, die den Eingang bewachte, neigte sich tief vor der Oberin, und nicht zum ersten Mal wurde Anna bewusst, wie wenig sie bei aller Zuneigung eigentlich von ihrer Tante wusste.
    »Er soll übrigens wieder in der Stadt sein«, sagte Regina beiläufig, als sie Anna umarmte und das Kind zum Abschied auf beide Wangen küsste.
    »Wer?«
    »Esra. Der Neffe des Rabbiners. Ein großer, stattlicher Mann mit einem Packpferd voller Geschenke. Es heißt, er habe es im fernen Venedig zu Geld und Ansehen gebracht.«
    »Woher weißt du das?« Ein Stich in Annas Herz. Und er hatte sich nicht bei ihr sehen lassen!
    Regina zog die Schultern hoch und lächelte. Jetzt sah sie beinahe wie ein Mädchen aus. »Eine Begine muss in dieser Stadt das Gras wachsen hören«, entgegnete sie spitzbübisch. »Sind, wie gesagt, schwierige Zeiten. Da sollte man möglichst alles im Auge behalten.«
    Den ganzen Nachhauseweg musste sie daran denken. Sie nahm nicht die kürzeste Strecke, obwohl Flora quengelte, weil sie müde war und nicht mehr laufen wollte, sondern ging durch die Rheinvorstadt, um die beiden neuen Kleider abzuholen, die sie sich auf ausdrücklichen Wunsch Leonharts hin hatte schneidern lassen. Die Sonne nahm jetzt Tag für Tag an Wärme zu; inzwischen spielte sich bereits das halbe Leben auf den engen Gassen ab. Kein Wunder, denn viele der Häuser, die hier standen, waren modrig, dunkel und alles andere als sauber. So verwandelten Flickschuster, Schneider und Barbier die Not in eine Tugend und gingen ihrem Gewerbe vor aller Augen nach. Frauen hatten ihre Webstühle in den offenen Eingängen aufgestellt; vor dem Metzgerladen hingen ausgeweidete Schafshälften. Da das Schöffenkolleg eine gemeinsame Brandmauer zweier Häuser noch nicht lange erlaubte, gab es zwischen vielen Gebäuden schmale Zwischenräume, die oft als Abfallgruben oder Latrinen genutzt wurden. Hier machte sich das Fortschreiten des Frühlings besonders unangenehm bemerkbar. Es stank bestialisch, und Anna zog die Kleine schneller fort.
    Dabei wurde die Luft eher noch schlechter, als sie im Gerberviertel angekommen waren, aber wenigstens hing der Himmel sanft und blau über den Dächern, und es roch hie und da nach Scharfgebratenem für das Abendessen. Links und rechts vom Weg die Gruben, in die die Häute nach umfangreicher Vorbearbeitung je nach Beschaffenheit mit einem Sud aus wahlweise Lohe, Knoppern, Sumach oder Schmack für ein paar Monate gelegt wurden, um dem künftigen Leder Geschmeidigkeit und Haltbarkeit zu verleihen. Anschließend wurden sie erneut mit Wasser gespült und im Freien auf Stangengerüsten abgetropft,

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