Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Phantasmen (German Edition)

Phantasmen (German Edition)

Titel: Phantasmen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
kreisförmige Bewegung mit den Armen. »Das hier sind nicht mehr die Toten der letzten drei Jahre, sondern vielleicht schon die der letzten dreißig. Niemand weiß mehr irgendwas. Und da sollen wir quer durch die Stadt laufen, uns dabei nur auf ihn verlassen, wie die drei Musketiere in Whiteheads Labor eindringen und Flavie und die anderen aufwecken? Einfach so?«
    Emma nickte wieder.
    »Das ist doch Scheiße«, sagte ich verzweifelt.
    »Du hast was vergessen.«
    Nein, hatte ich nicht.
    Emma lächelte traurig. »Tyler ist auch dort.«

39.
    Die Alarmsirenen waren die neuen Stimmen der Stadt.
    Sie heulten und jaulten und piepsten aus allen Richtungen. Aus beschädigten Fahrzeugen, verlassen oder voll besetzt mit Toten; aus Hauseingängen und offenen Fenstern; aus Geschäften, die geplündert worden waren; sogar aus den Abluftgittern der U-Bahn. Nach dem Zusammenbruch des Stromnetzes war die Zeit der Batterien und Notaggregate angebrochen. Wahrscheinlich würde es noch Tage dauern, ehe auch das letzte Alarmsignal verstummte und die Stille sich wie eine Winternacht über Manhattan senkte.
    Ich hatte eine Million Filme gesehen, die im Schatten dieser Wolkenkratzer spielten. Ich kannte die Geschäftigkeit, den Trubel, sogar die Geräuschkulisse, ohne jemals hier gewesen zu sein. Doch heute war das alles kaum vorstellbar. Hier lebte kaum noch etwas, nur umherstreifende Haustiere, Ratten und Vogelschwärme, die sich unter den Körpern auf den Gehwegen und Straßen ihre Nahrung suchten.
    Die Geister waren überall und verschmolzen zu einer Flut aus Totenlicht, dessen Gleißen den Grund der Häuserschluchten viele Meter hoch erleuchtete. Dazu kam der Schein aus den Fenstern, ganz gleich, in welche Richtung man sah. Wahrscheinlich hatte es nur einiger weniger Smilewaves bedurft, um in der Enge dieses Molochs jede Frau, jeden Mann und jedes Kind zu töten. Wer nicht früh genug über den Hudson oder den East River ins Umland entkommen war, hatte kaum eine Chance gehabt.
    Vielleicht aber gab es selbst hier noch ein paar lebende Menschen, zusammengekauert in Verstecken, die sie aus Angst vor dem nächsten Lächeln nicht mehr verließen – so wie es auch jetzt noch Wege gab, auf denen Tomasz uns in einem atemberaubenden Slalom durch Scharen von Geistern führte. Siebzehn Meter Abstand in alle Richtungen sind eine Menge, wenn das eigene Leben davon abhängt, und noch vor einer halben Stunde hätte ich es für undenkbar gehalten, in einer Stadt wie dieser solche Schneisen zu finden. Aber Emma sagte, unser Führer könne das Totenlicht wittern – oder das, was es sichtbar machte: eine Art Hauch, der durch die Geister aus den Kammern des Kalten Wassers herüberwehte, eine Aura, die alles Leben enden ließ.
    Wir stiegen über zurückgelassene Autos, deren Besitzer zu Fuß aus den Staus geflohen waren. Dann wieder führte uns Tomasz durch leere Ladenlokale und Hinterhöfe, durch Gassen voller Müllcontainer, sogar Feuertreppen hinauf und hinab, um den Geistern zu entgehen. Nachdem die letzte Smilewave abgeebbt war, wagten wir es dann und wann, den kürzesten Weg an den Erscheinungen vorbei zu nehmen – und ein halbes Dutzend Mal blieb uns gar keine andere Wahl. Aber Emma beteuerte, Tomasz spüre frühzeitig, wann die nächste Welle bevorstehe, und solange er keinen Alarm schlage, werde uns nichts geschehen.
    So bewegten wir uns tiefer in die Stadt hinein. Die Alarmsignale aus allen Richtungen begleiteten uns als letzter Aufschrei einer Technik, die ihre Daseinsberechtigung verloren hatte. Es gab niemanden mehr, der gewarnt oder aus dem Schlaf gerissen werden musste.
    Tomasz’ Kontaktaufnahmen zu Emma beschränkten sich jetzt auf knappe Impulse, in diese oder jene Richtung zu gehen, klapprige Metallstufen hinaufzusteigen oder über verbeulte Autos zu klettern. Er sprach nicht in klaren Sätzen zu ihr, formulierte kaum Worte, die sie exakt hätte wiedergeben können. Aber sie wusste , was er wollte, und für unsere Zwecke war das wohl ausreichend. Zum Nachdenken darüber blieb mir ohnehin keine Zeit.
    Anfangs hatte ich ihn genau beobachtet, die merkwürdige Art, wie er sich bewegte, so als bereitete ihm jeder Schritt Schmerzen. Ich wusste nicht, ob die Smilewaves auf ihn dieselbe Wirkung hatten wie auf uns, aber falls doch, so ging er äußerst nachlässig mit der Gefahr um. Er trug jetzt Hose, Hemd und Parka, die er einem Leichnam ausgezogen hatte, außerdem ein Paar Turnschuhe; er sah aus wie ein drogensüchtiger Obdachloser.

Weitere Kostenlose Bücher