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Phantasmen (German Edition)

Phantasmen (German Edition)

Titel: Phantasmen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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fuck«, flüsterte ich.
    Durch Windschutzscheiben und offene Türen erkannte ich nun auch die Leichen, aus denen sich die Geister erhoben hatten. Viele weitere mussten am Boden zwischen den Fahrzeugen liegen. Sie konnten nicht älter sein als einen Tag, und noch übertraf der Gestank des Probanden ihre Ausdünstungen. Sobald die Verwesung einsetzte, würde es sehr viel schlimmer werden.
    Emma trat neben mich. »Er sagt, im Moment sind wir hier in Sicherheit.«
    Ich lachte ohne jede Spur von Heiterkeit. »In Sicherheit ?«
    Aber es stimmte, die Smilewave hätte uns längst umbringen müssen. Der Proband hatte uns gezielt an eine Stelle gezogen, an der wir weit genug von den nächsten Geistern entfernt waren. Ein paar Meter weiter links oder rechts und wir wären in ihren Radius geraten. Hier aber, zwischen dem leeren Taxi und einem verlassenen Pick-up, konnte uns vorerst nichts geschehen.
    Ich wandte mich langsam zu unserem Retter um. Er kauerte noch immer am Boden, mit verdrehten Gliedern, als wäre sein Körper elastischer als der eines gewöhnlichen Menschen. Er hatte die Knie angezogen, das Gesicht daraufgelegt und wirkte erschöpft.
    »Hat er Peterson und die anderen getötet?«, fragte ich Emma, ohne ihn aus den Augen zu lassen.
    »Davon hat er nichts gesagt.«
    »Kannst du ihn fragen?«
    »Er kann dich hören. Wenn er darauf eine Antwort geben will, wird er’s tun.«
    »Kann er auch selbst reden oder nur durch dich?«
    Der Mann hob den Kopf und sah mich an. Sein Gesicht war eine ausgedörrte Grimasse, von der sich keinerlei Mimik ablesen ließ. Als sich seine Lippen voneinander lösten, wurden dahinter gelbe Zähne sichtbar. Ein heiserer Laut rollte aus seinem Rachen herauf.
    »Er kann nicht mehr sprechen«, sagte Emma nach einem Moment.
    »Hat er dir das gerade … ich weiß nicht, gesagt?«
    »Ja.« Sie rieb sich mit dem Handrücken über die Augen und verwischte die Tränen, die ich vorhin schon bemerkt hatte. Durchmischt mit dem Schmutz auf ihren Wangen sah es aus wie verlaufenes Make-up. »Havens Leute haben einen der beiden anderen in ihrem Hubschrauber getötet, der Zweite lebt noch. Aber auch er wird sterben, er hat Schusswunden.«
    »Warum hat er uns gerettet?«
    »Weil wir nicht zu Haven gehören. Ich hab’s ihm und den anderen schon im Flugzeug erzählt.« Sie verzog den Mund. »Aber natürlich wussten sie das längst, sonst hätten sie gar nicht erst mit mir gesprochen.«
    Und wieder die Logik von Emmas Welt. Als rezitiere sie die physikalischen Theorien eines Marvel-Comics. Ich muss sie eine Weile lang fassungslos angestarrt haben, fragte aber nicht weiter. Vielleicht gab es auch gar nicht viel zu erklären. Emma konnte die Gedankenstimmen der Probanden hören, solange die es zuließen, und die Probanden hörten Emma. Was blieb mir übrig, als es hinzunehmen? Auch die Professorin hatte davon gesprochen, dass manche Menschen nach Nahtoderfahrungen mediale Fähigkeiten entwickelten. Wie viel stärker mochten sie da erst sein, wenn jemand unzählige Male gestorben war?
    Noch einmal schaute ich mich blinzelnd um und sah die Geisterarmee in beiden Richtungen. Das grelle Totenlicht ließ es nicht zu, den Blick länger als ein paar Sekunden auf einen Punkt zu konzentrieren, danach wurde das Brennen in meinen Augen zu schmerzhaft.
    Als ich mich wieder dem Probanden zuwandte, richtete der sich gerade auf. Er schien Mühe zu haben, sein Gleichgewicht zu halten, so als hätte er all seine Kraft beim Kampf mit den Söldnern und für unsere Rettung aufgebraucht. Hinter ihm ragten die Hochhäuser Manhattans in die Morgendämmerung empor, eine breite Front aus Glas und Beton und vereinzelten Leuchtreklamen. Ich war nie zuvor in New York gewesen, niemals in Amerika, und ich hatte keine Ahnung, wo wir uns hier befanden. Außer den Geistern sah ich weit und breit niemanden, und die Hoffnungslosigkeit wirkte wie ein Verstärker auf meine Erschöpfung. Es erging mir wie dem Probanden, ich musste mich abstützen, um mich auf den Beinen zu halten.
    Wohin konnten wir gehen? Was blieb uns überhaupt noch zu tun? Wir waren auf einer verdammten Halbinsel gefangen, umgeben von Millionen Geistern.
    »Rain«, sagte Emma leise.
    Immerhin erholte sich mein Gehör. Ich sah sie an und wartete auf die nächste Hiobsbotschaft. Aber Emma deutete nur auf unseren Begleiter.
    Er hatte einen Arm ausgestreckt und zeigte in die Richtung, in der Havens Hubschrauber verschwunden war.
    »Du willst, dass wir ihnen folgen?« Ich lehnte mich

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