Phantasmen (German Edition)
ergriff kurz entschlossen meine Hand. »Komm!«
Ich bewegte mich nicht.
Heftig zog sie an mir und ich stolperte ein paar Schritte hinter ihr her.
»Sicher Zootiere«, sagte sie über die Schulter. »Könnten auch Bären sein. Oder Tiger.«
Ich wusste genau, wie Löwen klangen. Wenn es einen Laut gab, den ich niemals vergessen würde, dann diesen.
Doch jetzt war da nichts mehr, nur das Jaulen eines Alarms ein Stück die Straße hinunter. Und ein anschwellendes Rumoren, das erst von überall zu kommen schien, dann jedoch zweifellos von oben.
Ich bot meinen ganzen Willen auf, um auf den Beinen zu bleiben. Ich musste Emma beschützen, vor dieser Stadt, vor Whitehead, vor dem Licht.
Vor den Löwen.
Auf der Straße, aus der wir gekommen waren, tauchte etwas hinter einem Auto auf und verschwand wieder. Meine Augen tränten und brannten vom Totenlicht. Das Brüllen wiederholte sich nicht, aber ich war sicher, dass ich ein Tier gesehen hatte.
»Da war ein Schatten«, sagte Emma und deutete zum Himmel.
Hoch oben flog ein Hubschrauber über die Häuser hinweg. Im ersten Moment dachte ich, es wäre Haven, der kam, um uns aufzusammeln. Aber dazu hatte er keine Veranlassung. Er war mit Tyler längst bei seiner Tochter.
Als die Strahlen der aufgehenden Sonne den Helikopter von der Seite trafen, sah ich, dass er weiß war. Auf der Tür prangte ein rotes Kreuz. Der Pilot war auf dem Weg nach Westen und machte sich in Richtung New Jersey davon. Augenblicke später war er außer Sicht.
»Müssen weiter«, flüsterte ich, weil mich selbst das Sprechen jetzt ungeheure Mühe kostete.
Tomasz wankte einige Schritte auf uns zu und streckte mir seine Hand entgegen. Das Totenlicht machte ihn noch bleicher. Man konnte fast zusehen, wie er verfiel.
»Lauf!«, schrie Emma mit einem Mal. »Sie sind hinter uns!«
Ich weiß nicht, ob sie das erfand oder ob sie wirklich etwas gesehen hatte. Aber ich hielt ihre Hand ganz fest, und dann rannten wir, immer tiefer hinein in die Geisterstadt.
40.
Endlich entdeckten wir Tote mit Infrarotmasken, sogar welche mit Energieanzeige, die Batterien noch halb voll. Auch Tomasz ließ sich von Emma eine aufsetzen, ein schwarzes Modell mit futuristischen Kameraaugen.
Auf Höhe 50th Street und 8th Avenue stiegen wir über eine schmale Treppe hinab in die Unterwelt. Ratten wuselten zwischen den leblosen Leibern auf den Stufen. Tomasz signalisierte Emma, dass keine unmittelbare Gefahr durch eine Smilewave drohte, aber wir folgten ihm nur zögernd durch die Geister in die Tiefe. Falls die Sinne, die ihn vor dem Lächeln warnten, genauso geschwächt waren wie sein Körper, dann konnte es mit ihrer Zuverlässigkeit nicht allzu weit her sein.
Auf den letzten paar Hundert Metern bis zur U-Bahn hatte sich das Löwengebrüll nicht wiederholt. Die Station erstreckte sich über zwei unterirdische Etagen mit mehreren Bahnsteigen. Durch die Infrarotsicht war alles in flirrendes Grün getaucht. Wir mussten über so viele Körper steigen, dass ich bald keine Gesichter mehr wahrnahm. Sie alle waren nur noch Hindernisse, lagen kreuz und quer auf den Gängen und Treppen, eingepfercht zwischen Ziegelwänden voller Graffiti.
Tomasz bewegte sich mit einer Zielstrebigkeit, die mich erst verblüffte und dann wieder argwöhnisch machte. Entschied er sich nur auf gut Glück für diese Passage oder jenen Durchgang?
Schließlich erreichten wir die untere Etage. Als hier alles zusammengebrochen war, war der Bahnsteig überfüllt gewesen wie zur schlimmsten Rushhour. Aus den Tunneln waren ganze Populationen von Ungeziefer heraufgekrochen, Rudel von schwarzen Ratten, deren Augen durch die Nachtsichtbrillen wie grüne Ampellichter glühten. Sie ignorierten uns, weil genug Nahrung für alle da war, und wir legten es nicht darauf an, ihnen zu nahe zu kommen. Dann und wann sprang eine quiekend unter einem Körper hervor, über den wir hinwegsteigen mussten, und einmal sah ich eine, die so groß war wie ein Dackel und etwas aus einem umgestürzten Kinderwagen zerrte.
Als wir zwischen Reihen aus Stahlträgern an die gelb markierte Kante des Bahnsteigs traten, drängte Tomasz Emma zur Eile. Ich konnte ihre Augen unter der Infrarotmaske nicht sehen, aber ich erkannte an der Art, wie sie den Mund verzog, dass die nächste Smilewave bevorstand. Wie viel Zeit war seit der letzten vergangen? Anderthalb Stunden? Der tödliche Takt des Lächelns schien sich zu beschleunigen.
Wir folgten den Gleisen in die runde Tunnelöffnung, und noch
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