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Phantasmen (German Edition)

Phantasmen (German Edition)

Titel: Phantasmen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Mühsam schleppte er sich durch die Straßen und Gebäude, die wir auf unserem Weg durchquerten, und ich rechnete dauernd damit, dass er beim nächsten Schritt zusammenbrechen würde.
    Aber Tomasz hielt durch, genau wie wir.
    Schließlich kreuzten wir eine vierspurige Straße, indem wir durch einen leeren Bus kletterten, der sich quer gestellt und auf die Seite gelegt hatte. Rundum war der Verkehr in einem Chaos aus Autokollisionen erstarrt. Die meisten Wagen waren verlassen, auch hier hatten die Menschen es vorgezogen, ihre Flucht zu Fuß fortzusetzen. Viele mochten zum Hudson gelaufen sein, um den Lincoln Tunnel zu erreichen. Ich stellte mir vor, wie es jetzt dort unten aussehen musste, zahllose Wagen beschienen von Abertausenden Geistern.
    Wir verließen den umgestürzten Bus durch die zerbrochene Windschutzscheibe und kamen an einen kleinen Park, nicht größer als zwei Fußballplätze. Rundum hatten die Gebäude nur vier oder fünf Stockwerke, aber jenseits ihrer Dächer erhoben sich verglaste Büro- und Apartmenttürme. Sogar in den Baumkronen des Parks schwebten Geister: Ein paar Verzweifelte hatten sich in den Ästen festgebunden, in der Hoffnung, sie wären dort oben in Sicherheit.
    Die Angst, wir könnten einzelne Erscheinungen übersehen und nichts ahnend in die nächste Smilewave geraten, ließ mir keine Ruhe. Mein Blick huschte von einem verlassenen Fahrzeug zum nächsten, immer auf der Ausschau nach Totenlicht.    
    »Er will zur U-Bahn«, sagte Emma atemlos.
    Ich blieb wie angewurzelt stehen. »Durch die Tunnel ?«
    Sie nickte.
    »Vergiss es. Ich lauf bestimmt durch keine stockfinsteren U-Bahn-Tunnel. Und schon gar nicht mit ihm.«
    Tomasz hatte bemerkt, dass wir nicht mehr hinter ihm waren, und schaute sich um. Er stützte sich auf eine Motorhaube und sah aus, als würde er bald auf allen vieren kriechen müssen.
    »Er kennt sich hier aus«, sagte Emma.
    »Was war er? U-Bahn-Fahrer?«
    »Programmierer.«
    »Herrgott. Ein New Yorker Programmierer, der –«
    »Ungarischer Programmierer. Er kommt aus Budapest. Aber er hat mal an einem Spiel gearbeitet, für das sie Teile von Manhattan nachgebaut haben.«
    Ich starrte sie an. »Das ist nicht dein Ernst, oder?«
    »Wir beide haben nicht mal einen Stadtplan. Er hat einen im Kopf. Und er hört die anderen und spürt, wenn wir in die falsche Richtung gehen.« So wie sie es sagte, klang es einleuchtend – ungefähr zwei Sekunden lang. Dann wusste ich, dass wir geliefert waren. Wir würden diese Stadt nicht mehr lebend verlassen.
    Ich senkte meine Stimme. »Sieh ihn dir an! Wenn er noch zwei, drei Blocks schafft, ist das viel. Willst du mit ihm da runter, nur damit er stirbt und wir allein im Dunkeln sitzen? Hast du eine Vorstellung, wie groß dieses Tunnelnetz ist? Abgesehen davon, dass wahrscheinlich eine Menge Leute auf dieselbe Idee gekommen sind. Vielleicht gibt es dort unten mehr Geister als hier oben.«
    Emma nickte wieder, als wäre ihr all das auch schon durch den Kopf gegangen. »Dann hätten wir immerhin Licht.«
    »Das sind Tunnel, Emma! Man kann nicht mal eben nach rechts oder links ausweichen wie hier oben. Keine Türen, keine Fenster, gar nichts!«
    Das Brüllen, das in diesem Moment erklang, wischte meine Bedenken beiseite. Schlagartig war Leere in meinem Schädel.
    Dann begann das Zittern.
    »Hast du das auch gehört?«, flüsterte ich.
    Emma blickte sich um. »Ja.«
    Tomasz machte mit letzter Kraft eine Geste und deutete auf den Gehsteig vor dem schwarzen Eisenzaun. Hell’s Kitchen Park stand auf einem Schild. Tief in mir tickte wieder das Metronom.
    Das animalische Brüllen ertönte erneut. Darauf folgte etwas, das wie ein vielstimmiges Echo klang. Aber es waren Antworten, gleich von mehreren Tieren.
    »Die sind hinter uns«, sagte Emma. »Vielleicht haben sie unsere Spur aufgenommen und sind uns –«
    »Das sind Löwen«, fiel ich ihr ins Wort, war aber nicht sicher, ob ich überhaupt einen Ton herausbrachte oder mir das nur einbildete.
    Tomasz winkte wieder. Wir sollten ihm endlich folgen.
    Ich rührte mich nicht von der Stelle. Konnte es nicht. Meine Trauma-Skala schnellte nach oben wie ein Expresslift. Von null auf sieben, vielleicht acht. Sieben war die Grenze, an der ich die Kontrolle verlor, acht ein Schritt zu weit.
    Eiskalter Schweiß lief mir in die Augen. Ich biss die Zähne so fest aufeinander, dass mein Unterkiefer schmerzte. Ich spürte jeden einzelnen Muskel in meinem Körper, aber keiner wollte mir gehorchen.
    Emma

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