Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Phantasmen (German Edition)

Phantasmen (German Edition)

Titel: Phantasmen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
meine Schwester dich erschießt, wird das nicht nötig sein.«
    Ganz langsam drehte er sich um, während ich an ihm vorbei zu Emma ging. »Wie heißt ihr beiden?«
    »Emma«, sagte Emma.
    »Fick dich«, sagte ich.
    »Hm«, machte er.
    Ich erreichte Emma und berührte sie am Arm, damit sie noch einige Schritte zurücktrat. Ich wollte so viel Abstand wie möglich zwischen ihn und uns bringen.
    »Woher hast du gewusst, dass das passieren würde?« Ich deutete hinüber zu dem Toten.
    Nun wirkte er tatsächlich ein wenig erstaunt. »Hört ihr kein Radio?«
    Wir wechselten einen kurzen Blick. »Ist kaputt«, sagte ich. »Schon seit Frankreich.«
    Er schnaubte leise. »Ihr seid aus England, oder? Und den ganzen Weg hier runter mit diesem Wrack da drüben gekommen?«
    Ich nickte.
    »Hört zu«, sagte er mit einem Seufzer. »Ich hab keine Lust, mit euch herumzudiskutieren, weil es hier bald ziemlich brenzlig werden könnte. Nur so viel: Ich werde gleich auf mein Motorrad steigen und verschwinden. Den Schlüssel hab ich für euch gesucht, weil ihr mit dem Mini keine Chance habt. Mit seinem Wagen vielleicht schon.« Er griff unter seine Lederjacke.
    »Hey, ganz vorsichtig!«, sagte ich.
    Langsam zog er etwas aus der Innentasche, das ich im schwachen Licht des Scheinwerfers nur undeutlich erkannte. Erst als er es zwischen Daumen und Zeigefinger hochhielt, sah ich, dass es sich um eine silberne Taschenuhr an einer Kette handelte. Er ließ den Deckel aufspringen.
    »Gleich eins«, sagte er und steckte die Uhr wieder ein. »Ich schätze, dass sie frühestens in zehn Minuten hier sein werden, aber dann müssten wir sie schon hören. Vielleicht also eher in einer Viertelstunde. Bis dahin sollten wir alle drei von hier weg sein.«
    Ich sah nach Süden und suchte nach Lichtern, aber dort lag alles in Dunkelheit.
    »Er blufft«, sagte Emma.
    Ich nickte.
    »Oder nicht«, ergänzte sie.
    Manchmal war sie wie Engel und Teufel, die auf meiner Schulter saßen und mir widersprüchliche Ratschläge zuflüsterten.
    »Was war das mit dem Radio?«, fragte ich. »Was hätten wir hören sollen?«
    Er sah mich prüfend an und schüttelte langsam den Kopf. »Ihr habt wirklich nichts mitbekommen?«
    Bevor ich etwas erwidern konnte, fragte Emma: »Wie heißt du?«
    »Tyler.«
    Emma musterte ihn. »Woher kommst du?«
    »Trondheim. Norwegen.« Er sah mir wohl mein Misstrauen an. »Nein, Tyler ist kein norwegischer Name. Ich heiße trotzdem so.«
    »Erzähl uns doch deine Lebensgeschichte«, sagte ich, »und ich backe in der Zeit einen leckeren Kuchen.«
    Zum ersten Mal zuckte einer seiner Mundwinkel, aber ich fand nicht, dass ihn das humorvoller erscheinen ließ. Da lag etwas Brutales in seinem Lächeln, zumindest wirkte es in den Schatten so. Aber wer weiß, was er damals in uns sah; sicher nur zwei dumme Hühner, die viel tiefer im Schlamassel steckten, als sie ahnten.
    »Das da« – er zeigte auf den toten Amerikaner – »ist nicht zum ersten Mal passiert. Und nicht nur hier.«
    Ich sah noch einmal zum schwarzen Horizont im Süden, entdeckte aber keine Scheinwerfer. Und wenn diejenigen, vor denen er uns gewarnt hatte, im Dunklen kamen?
    Tyler griff erneut an einen der Reißverschlüsse seiner Jacke und zog ein winziges Gerät hervor, eines dieser Taschenradios, die man kaum noch irgendwo sah. »Es passiert überall auf der Welt. Gerade eben zum dritten Mal. Sie lächeln, ganz egal wo. Ob in China oder Amerika oder Australien oder hier bei uns – überall herrscht völliges Chaos.«
    Mir wurde bewusst, dass mein Mund offen stand. Scharf atmete ich ein und stieß die Luft wieder aus.
    »Alle Geister lächeln zur selben Zeit«, sagte er, »für genau dieselbe Dauer. Wer dann in ihrer Nähe ist, stirbt.« Er wies hinüber zu dem Leichnam. »Sie sagen, der tödliche Radius reiche zehn bis zwanzig Meter weit, aber so ganz genau weiß das noch keiner.«
    Ich sah an ihm vorbei zu den Geistern, einem Wall aus weißem Licht in seinem Rücken.
    »Jeder, der nicht schnell genug wegkommt, stirbt an Herzversagen«, sagte Tyler. »Mittlerweile sind es Millionen Tote auf der ganzen Welt. Zig Millionen in weniger als zwölf Stunden.«

9.
    »Das ist nicht möglich«, sagte Emma unbeeindruckt.
    Er hob die Achseln. »Beschwer dich doch.«
    »Nein«, sagte sie, »du verstehst mich nicht. Es ist nicht möglich, weil sie nicht miteinander kommunizieren können, um sich abzusprechen.«
    Ich hätte ihr gern erklärt, dass auch das Erscheinen von fast zweihundert

Weitere Kostenlose Bücher