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Phantasmen (German Edition)

Phantasmen (German Edition)

Titel: Phantasmen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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sogar den Wunsch nach Rache für den Mord an meinen Eltern empfinden müssen. Aber ich konnte nur daran denken, wie ich Emma heil aus dieser Sache herausbekommen sollte.
    »Aber warum ausgerechnet diese zwölf?«, fragte ich und starrte die undeutlichen Gestalten vor der Maschine an. Ich wünschte, ich hätte ihre Gesichter erkennen können, irgendeinen Anhaltspunkt, der verraten hätte, was so Besonderes an ihnen war.
    »Flavie ist schon einmal tot gewesen«, sagte er. Ich wartete darauf, dass seine Miene Ironie verriet. Oder Zynismus. »Genau genommen dreimal«, fügte er hinzu.
    »Wie meinst du das?«
    »Sie lag im Sterben und hat etwas gesehen. Den Tunnel und das Licht. Und etwas dahinter.«
    »Nahtoderfahrungen?« Ich hatte darüber gelesen, das war keine große Sache. Die Sehnerven und das Gehirn spielten den Betroffenen Streiche, indem sie die Illusion von Sinneswahrnehmungen auslösten, an die sich die Menschen später erinnerten. Das zumindest war die wissenschaftliche Erklärung. Es gab auch noch andere.
    »Flavies Erfahrungen waren stärker als die der meisten«, sagte Tyler. »Deshalb war sie an Bord dieser Maschine, zusammen mit einer Gruppe von Leuten, denen es genauso ergangen war. Man hatte sie eingeladen zu einer wissenschaftlichen Tagung.« Er wich meinem Blick aus und ballte die Fäuste. »Ich hatte mit ihr fliegen wollen. Ich lebte damals noch in Norwegen, sie in Paris. Wir hatten uns bei einem Austausch kennengelernt, und als sie diese Einladung bekam, beschlossen wir, die Reise zusammen zu machen. Aber als es dann so weit war, hatte ich kein Geld und sie musste ohne mich fliegen. Wegen ein paar Hundert Euro hab ich sie allein gelassen … Dabei hätte ich bei ihr sein müssen, ich hätte –«
    »Und dann?«, fiel ich ihm ins Wort. »Dein Geist stünde jetzt da unten auf der Straße zwischen all den anderen.«
    Er starrte mich wutentbrannt an. Ich wollte noch etwas hinzufügen, als draußen auf der Treppe Schritte erklangen.
    Emma stürmte in den Kuppelraum. Ihr Gesicht glänzte, das hellblonde Haar klebte in Strähnen an ihrer Stirn. Sie sah aus, als wären die Geister zum Leben erwacht und hätten sie den Turm heraufgejagt.
    »Ich hab euch gerufen, aber ihr habt nicht geantwortet«, stieß sie atemlos hervor.
    Tyler und ich tauschten einen besorgten Blick.
    »Sie kommen«, sagte Emma.
    In dieser Sekunde hörte ich es auch.
    »Sie kommen mit Hubschraubern.«

13.
    »Raus hier!«
    Tyler packte Emma an der Hand und gab mir einen Wink. Gemeinsam rannten wir zum Eingang des Kuppelraumes. Im Erdgeschoss befanden sich die Geister der Toten. Falls sich das Lächeln wiederholte, während wir gerade nach unten liefen, hatten wir keine Chance, aus ihrem Radius zu entkommen. Der einzige Ort, der sich weit genug entfernt befand, war die Kuppel. Und sie würde vermutlich jeden Augenblick von den Lionheart-Hubschraubern pulverisiert werden.
    Je länger wir zögerten, desto auswegloser wurde es. Emma und ich machten den Anfang, Tyler folgte uns die Treppe hinunter. Seine Stiefel polterten lautstark auf den Gitterstufen.
    Der Chemiegestank der Flüssigkeiten war so beißend, dass er in der Lunge brannte. Unten angekommen rannten wir durch die Küche ins Büro. Die Leichen der Söldner lagen unverändert am Boden, ihre Geister standen mitten im Raum.
    An der offenen Tür hielt ich inne und blickte ins Freie. Über dem Geist des Astronomen, draußen in der Auffahrt, sah ich mehrere Lichtpunkte am Nachthimmel. Lärm dröhnte über die kargen Hänge der Sierra, aber noch waren die Hubschrauber ein gutes Stück entfernt.
    »Lauft!«, rief Tyler und drängte uns hinaus.
    Ich wollte die Einfahrt hinunterrennen, aber er hielt mich zurück. »Nicht da lang! Dort, zwischen die Felsen!«
    Seitlich führte ein schmaler Fußweg von der Sternwarte fort, vielleicht auch nur eine natürliche Schneise zwischen den Steinbrocken.
    Tyler stieß uns grob in diese Richtung. »Rennt, so schnell ihr könnt! Und wenn ihr etwas hört, das wie ein Fauchen klingt, dann werft euch zwischen die Felsen!«
    »Was ist mit dir?«
    Mit wenigen Sätzen war er bei der Black Shadow. Dieser Irre wollte tatsächlich sein Motorrad retten.
    »Spinnst du?«, rief ich ihm hinterher.
    »Willst du später vielleicht zu Fuß weiter?« Vergebens tastete er nach dem Zündschlüssel. Er musste ihn vorhin abgezogen haben, vielleicht weil er befürchtete, ich könnte die Maschine stehlen und mit Emma darauf verschwinden. Menschenkenntnis besaß er also

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