Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Phantasmen (German Edition)

Phantasmen (German Edition)

Titel: Phantasmen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
Frage, so als bliebe uns tatsächlich eine Wahl.    
    So leise wie möglich machten wir uns an den Aufstieg, eng an der Wand entlang, damit die Stufen nicht knarrten. Die rote Teppichbahn auf der Treppe war mit goldenen Stangen in den Winkeln befestigt. Auf dem Metall spiegelte sich die Farbe der Umgebung; es sah aus, als glühten die Stäbe der Reihe nach auf, während wir die Absätze erklommen.
    Der Fado war nur unmerklich lauter geworden, als wir die erste Etage erreichten. Drei weitere lagen über uns. Auch hier: tiefstes Rot, wohin man blickte.
    Niemand begegnete uns. Von der Treppe aus konnten wir in weitere Korridore blicken, die meisten Türen standen offen. Das einzige Zimmer, in das ich hineinsah, war unmöbliert. Esteban Salazars Augen starrten von allen Plakaten an den Wänden, sein Blick überwachte uns bei jedem Schritt.
    Auch im zweiten Stock: rote Tapeten, rote Decken, rote Teppiche, dazwischen die schweren Goldrahmen. Auf den meisten Plakaten war das Haar des Hypnotiseurs rabenschwarz. Nur wenige wiesen genauere Daten auf, fast alle stammten aus den Sechziger- und Siebzigerjahren, das älteste von 1958. Jene aus den späteren Jahren wirkten ernsthafter, Teufel und orientalischer Mummenschanz waren verschwunden. Offenbar hatte sich Salazar mit fortschreitender Karriere um größere Seriosität bemüht.
    »Das ist der Mann von Molinas Fotos«, flüsterte Tyler.
    »Die Bilder waren viel zu unscharf«, gab ich leise zurück. »Das hätte jeder weißhaarige ältere Mann sein können.«
    Natürlich war der Verdacht naheliegend. Doch was hatte ein Hypnotiseur, der vor Jahrzehnten durch Europas Varietés getingelt war, mit einer Armee bis an die Zähne bewaffneter Söldner zu tun? Und mit einem Flugzeug, das unweit seines Hauses zur Landung gezwungen und gesprengt worden war?
    Während wir den wehmütigen Klängen des Fado höher hinauf ins blaue Haus folgten, ließ ich Emma nicht aus den Augen. Sie zeigte keine Spur von Furcht. Egal, ob es um eine Rechenaufgabe oder einen Einbruch ging, sie tat alles mit größtmöglicher Sorgfalt. Sie war immer ein ungewöhnliches Mädchen gewesen, aber ich konnte mich erinnern, dass sie als Kind noch gelacht und geweint hatte. Die völlige Verweigerung von Gefühlen war erst nach dem Tod unserer Eltern hinzugekommen. Meine Großeltern hatten sich gegen Emmas Anderssein gesträubt und bis zuletzt behauptet, dass nicht mehr nötig wäre als ein intaktes Familienleben und größtmögliche Nähe, damit Emmas Zustand sich besserte. Aber je mehr Zeit ich mit Emma verbrachte, desto sicherer war ich, dass sie gar kein Interesse daran hatte, sich zu ändern. Ihr Zustand war ihre Normalität.
    Im dritten Stockwerk rückte die Balustrade rund um das Treppenhaus stärker zusammen, hier lagen zwischen den Geländern und der Liftsäule in der Mitte kaum noch drei Meter. Die Kabine stand über uns im vierten Stock. Von dort drang auch die Musik herunter.
    Oben angekommen stießen wir auf eine breite Doppeltür, die einen Spalt weit offen stand. Der Raum dahinter war größer, als ich erwartet hatte. Selbst an seiner schmalsten Stelle hatte das Haus noch enorme Abmessungen.
    Plüschsessel waren um runde Tische gruppiert, auf denen kleine Lampen brannten. Sie verbreiteten ein schwefeliges Licht, das von den dunkelroten Polstern und Samttapeten geschluckt wurde. Ein Kronleuchter unter der Decke war ausgeschaltet. An den Wänden hingen weitere Plakate von Salazars Tourneen. Das jüngste, das ich sah, stammte aus dem Jahr 1972.
    »Gehen wir rein«, sagte Emma.
    Tyler stimmte mit einem Nicken zu.
    Langsam drückte ich die Tür weiter auf. Mehr Tische und Sessel und gedämpfte Lichter. Und dahinter, an der Stirnseite, eine Bühne mit weinroten Vorhängen und goldenen Verzierungen.
    Der Geist eines Mannes stand dort oben und blickte nach Westen – genau in unsere Richtung. Falls das Lächeln bei allen Erscheinungen gleichzeitig auftrat, war es seit unserem Aufbruch von der Sternwarte wieder abgeklungen.
    Ein Sessel aus dem Zuschauerraum war an seine Seite geschoben worden. Darin saß eine alte Frau mit geschlossenen Augen. Ihr linker Arm baumelte seitlich über die Lehne, die rechte Hand ruhte in ihrem Schoß.
    Salazars Geist war unverkennbar, dieselbe scharf geschnittene Nase, die breiten Augenbrauen. Groß und auch im Alter schlank. Aber anders als auf den Plakaten war sein Blick nicht mehr stechend, sondern so apathisch wie der aller anderen Geister. Und wie sie stand er starr und mit

Weitere Kostenlose Bücher