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Phantasmen (German Edition)

Phantasmen (German Edition)

Titel: Phantasmen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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hängenden Armen da, als hätte man ihn an seinen Schlüsselbeinen aufgehängt.
    Esteban Salazar war auf der Bühne seines privaten Varietés gestorben, El Xanadú Dos sein Mausoleum.
    Die Frau mochte schlafen. Oder sie war tief versunken in die Musik, die aus den Lautsprechern neben der Bühne drang. Sie trug eine lange, rote Robe, unter der ihre nackten Füße hervorschauten, vielleicht ein exzentrischer Morgenmantel. Ihr weißes Haar fiel unfrisiert über ihre Schultern und glänzte silbrig im Licht der Scheinwerfer, die von mehreren Seiten auf die Bühne gerichtet waren.
    Wir schlüpften in den Saal und gingen hinter einer Sitzgruppe in Deckung, nah genug an der Tür, um im Fall eines erneuten Lächelns zurückweichen zu können.
    Tyler stupste mich an und gestikulierte zu einer langen Bar an der rechten Seite des Raumes. Der Spiegel dahinter war eingestaubt und blind, die Regale leer. Offenbar wollte er hinter dem Tresen zur Bühne schleichen. Er bedeutete mir, ich solle mit Emma hier warten. Widerstrebend nickte ich, als ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung im Scheinwerferlicht registrierte.
    Die Frau erwachte aus ihrer Reglosigkeit. Ihre Augen blieben geschlossen, während sie wie in Zeitlupe die Hand vom Schoß hob.
    Sie hielt einen Revolver.
    Ich atmete scharf ein und blieb mit Emma in Deckung. Neben mir huschte Tyler davon und verschwand hinter der Bar. Hatte er die Waffe noch gesehen?
    Das Lied endete mit einem Knistern der Schallplatte. Einen Moment lang herrschte Stille, dann begann die nächste Melodie, noch schwermütiger als die vorherige. Nach einigen Takten setzte eine Frauenstimme ein und sang auf Portugiesisch. Vom Tod oder von der Liebe oder von beidem, nahm ich an.
    Tyler befand sich noch immer hinter dem Tresen.
    Die Augen der Frau blieben geschlossen. In einer unendlich langsamen Bewegung setzte sie die Waffe an ihre Schläfe.
    Emmas Oberkörper streckte sich, als sie sich hinter der Lehne emporschob, um besser sehen zu können. Ich berührte ihre Hand, aber ich konnte sie nicht zwingen, den Blick abzuwenden.
    Tyler erschien am anderen Ende der Theke, nur wenige Schritte vom Bühnenaufgang entfernt. Geduckt huschte er auf die Stufen zu.
    Auf der Schallplatte stimmte die Fadosängerin eine neue Strophe an. Kummer und Wehmut erfüllten den kleinen Saal und schienen das Licht auf der Bühne zu verdüstern. Die Schatten zwischen den Sesseln wirkten noch dunkler, und mir kam der Gedanke, dass sich da noch andere Zuschauer verbergen mochten.
    Tränen liefen über die faltigen Wangen der Frau. Das grelle Licht von Salazars Geist brach sich darin wie der Lampenschein in den Spiegelaugen seiner Plakate.
    Tyler betrat die Bühne. Nur wenige Meter trennten ihn von der Frau. Falls Salazar lächelte, hatten Emma und ich eine Chance, es die Treppe hinunter zu schaffen, doch Tyler war dem Geist jetzt viel zu nahe. Zwischen dem Tod des Amerikaners und Molinas Lächeln in der brennenden Sternwarte waren kaum mehr als zwei Stunden vergangen. Wurden die Abstände kürzer? Salazars Geist war eine tickende Zeitbombe – und wir konnten den Countdown nicht sehen.
    Noch immer hatte die Frau nichts bemerkt, sie war versunken in Erinnerungen und die Klänge der Musik. Tyler kam jetzt von der rechten Bühnenseite auf sie zu.
    »Sie könnte einfach auf das nächste Lächeln warten«, flüsterte Emma.
    Der Gesang verstummte, nur die Instrumente spielten weiter.
    Ein einzelnes Geräusch übertönte sie. Das Knirschen, als der Revolverhahn gespannt wurde.

16.
    Ehe die Frau abdrücken konnte, machte Tyler einen Satz nach vorn. Mit der Schulter stieß er gegen den Sessel, warf ihn um und polterte mit der Frau durch Salazars Geist zu Boden.
    Sie schrie auf, doch sie erholte sich rasch von dem Schreck. Zorn loderte in ihrem Blick. Die Waffe war ihren Fingern entglitten und lag ein Stück entfernt am Bühnenrand. Hastig wollte sie darauf zukriechen, aber Tyler war schneller. Er warf sich auf den Revolver und rollte sich über die Bühnenkante ab. Geschickt landete er auf den Füßen, richtete sich auf und hielt die Waffe in beiden Händen.
    Die Frau kreischte etwas auf Spanisch, das ich nicht verstand. Sie lag auf dem Bauch, schob aber den Oberkörper hoch und starrte Tyler hasserfüllt an. Das weiße Haar hing ihr zerzaust ins Gesicht.
    Eine ganze Tirade von Flüchen ging auf ihn nieder, aber er sicherte in aller Ruhe den Revolver und schob ihn in die Gesäßtasche seiner Jeans. Salazars Geistergesicht regte sich nicht.

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