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Phantasmen (German Edition)

Phantasmen (German Edition)

Titel: Phantasmen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Hintertür. Als die nächste Lärmwelle vom Solarfeld herüberrollte, schlug Tyler mit einem Stein eine Scheibe ein, griff hindurch und löste den Riegel.
    Wir betraten das blaue Haus.

15.
    Schweigend durchquerten wir einen Salon, groß wie ein Ballsaal. Emma schaltete die Taschenlampe des Smartphones ein und richtete den Schein auf den Boden. Die Helligkeit reichte aus, um zu erkennen, dass hier alles in Rot gehalten war. Samttapeten, schwere Vorhänge, Sessel, selbst die Türklinken – jedes Detail war dunkelrot.
    Von hier aus gelangten wir in ein Treppenhaus im Herzen des Gebäudes. Nach oben hin verengte es sich mit jedem Stockwerk, so dass es die Pyramidenform der Fassade auch im Inneren widerspiegelte. Durch die Mitte verlief ein altmodischer Liftschacht mit Gittertür.
    Gedimmte Fluter warfen fächerförmigen Lichtschein an den Tapeten hinauf. Auch hier war fast alles rot, die Teppiche, jede Tür, sogar ein antiquiertes Telefon mit Wählscheibe. Nur einige Details besaßen einen Goldüberzug: ein Hutständer, der Schaft einer Stehlampe, einige Bilderrahmen.
    Abrupt erlosch Emmas Handyleuchte. »Akku leer«, sagte sie.
    Über den ersten Stufen hing das lebensgroße Ölporträt eines Mannes in Frack und Zylinder. In marktschreierischen Lettern stand darüber auf Englisch der Schriftzug Die Sensation der Sensationen . Und unten: Salazar der Große . Rote Kobolde tanzten um seine Füße, während im Hintergrund eine Teufelsfigur stand und ihn mit nachdenklicher Miene betrachtete. Erst beim zweiten Hinsehen fielen mir die Augen des Mannes auf, tief liegend unter buschigen, schwarzen Brauen. Winzige Spiegel waren darin eingelassen, die ihnen einen stechenden, rubinfarbenen Glanz verliehen.
    Als mein Blick der Treppe nach oben folgte, entdeckte ich an den Wänden in üppigen Goldrahmen ähnliche Motive. Auf einigen war der Mann von ägyptischen Symbolen umgeben, Sphingen und Schakalköpfen. Ein anderes zeigte ihn, wie er mit ausgestreckten Händen eine junge Frau über einem Nagelbrett schweben ließ. Auf einem Plakat stand sein vollständiger Name: Esteban Salazar . Darunter Der Hypnotiseur! Die Zeichnung zeigte ihn auf einem elektrischen Stuhl, umgeben von sprühenden Funken. Fühlen Sie in Trance die Macht von 30000 Volt!
    »Was, zum Teufel …«, murmelte Tyler, ohne den Satz zu beenden. Was auch immer er hinter der Fassade des blauen Hauses erwartet hatte – wohl kaum den exzentrischen Wohnsitz einer Jahrmarktsattraktion.
    Mir hingegen wurde ganz schlecht. Nach Afrika waren meine Erfahrungen mit therapeutischer Hypnose alles andere als angenehm gewesen, und obgleich sie wohl nichts mit dem Budenzauber Esteban Salazars gemein gehabt hatten, rumorte mein Magen.
    Emma ging langsam auf die Treppe und das große Porträt zu. Beinahe schien es, als wandte Salazar seine Spiegelaugen in unsere Richtung. Das Gemälde war eine grandiose optische Täuschung.
    Tyler war derweil in den Flur gegenüber der Treppe gehuscht und lief zum Haupteingang. Dabei sah er nach rechts und links in offene Türen. Dieses Haus mochte Dutzende Zimmer haben, wir konnten niemals jedes einzelne durchsuchen.
    Während Emma wie gebannt am Fuß der Treppe stehen blieb und ich überlegte, ob ich sie zurück in den Salon ziehen sollte, damit keiner uns von oben entdecken konnte, ließ Tyler ein Sicherheitsschloss am Hauseingang einschnappen. Anschließend kam er zurück in die Halle und horchte.
    Ich hatte es auch gehört. Aus den oberen Etagen ertönte gedämpfte Musik. Sie klang fern und unwirklich, als würde sie auf einem Grammofon abgespielt. Ich hatte es erst für französische Chansons gehalten, aber Tyler flüsterte: »Das ist Fado.«
    Traditionelle Musik aus Portugal, melancholisch und voller Wehmut. Ich sah Tyler an in seiner Bikerjacke, mit den zerzausten langen Haaren und dem Dreitagebart, und fragte mich, was für Überraschungen er noch bereithielt.
    »Wenn man drei Jahre trauert«, sagte er, »dann wird man Fachmann in so was.«
    »Das kommt von oben.«
    Wir eilten zu Emma. Ich trat vor sie, um ihren Blickkontakt mit Esteban Salazars Porträt zu brechen. »Alles in Ordnung?«
    »Ich wüsste gern, ob er Mädchen in Kisten verschwinden lässt«, flüsterte sie. »Und wohin sie verschwinden.«
    »Er ist kein Magier, glaube ich, sondern jemand, der … Menschen mit seinen Augen Angst einjagt.«
    Tyler warf mir einen fragenden Seitenblick zu, hakte aber nicht nach und wies die Treppe hinauf. »Gehen wir?« Immerhin betonte er es als

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