Phantasmen (German Edition)
Emma und ich erhoben uns aus unserer Deckung.
Die Frau hatte uns noch nicht gesehen. Ihr wütender, verzweifelter Blick war ganz auf Tyler fixiert. Er stand vor der Bühne, und sie lag noch immer dort oben und starrte ihn an, als wollte sie im nächsten Augenblick wie eine Giftschlange auf ihn zustoßen.
»Wenn Sie nicht wollen, dass diese anderen Männer hier auftauchen, dann sollten Sie mit dem Geschrei aufhören«, sagte er.
Ihre Augen verengten sich. Als sie antwortete, sprach sie nahezu akzentfreies Englisch. »Du gehörst nicht zu Havens Leuten. Was willst du?«
Hinter uns ertönte ein Klingeln wie von Glöckchen, dann ein mehrstimmiges Bellen. In der Tür zum Treppenhaus waren drei kleine weiße Hunde mit pechschwarzen Knopfaugen aufgetaucht. Der Lärm mochte sie herbeigelockt haben, und nun kläfften sie Emma und mich an und hüpften mit ihren kurzen Beinen auf der Stelle.
Emma bückte sich und streckte einem ihre Hand entgegen. Er machte zwei Schritte auf sie zu, wedelte mit dem Stummelschwanz, roch an ihren Fingerspitzen und sprang zurück zu den anderen.
»Psst«, machte Emma und legte einen Finger an die Lippen. »Ihr wollt doch nicht, dass die fremden Männer euch hören, oder?«
Die Hunde verstummten und blieben schwanzwedelnd an der Türschwelle stehen.
»Brav«, sagte Emma.
Mit einem sichernden Blick auf Salazars Geist eilte ich nach vorn und lief die Stufen zur Bühne hinauf. Die Frau wollte vor mir davonkriechen.
»Was wollt ihr von mir? Nehmt euch, was ihr sucht, und verschwindet!«
Ich beugte mich über sie und versuchte ihr beim Aufstehen zu helfen. Sie schüttelte meine Hand ab.
»Kommen Sie weg von hier!«, sagte ich.
»Lasst mich in Frieden! Ihr könnt alles haben, was ihr findet.«
»Erst gehen Sie mit nach unten«, sagte Tyler, »und beantworten ein paar Fragen. Danach gebe ich Ihnen die Waffe wieder oder Sie warten einfach, bis er lächelt.«
Ich warf ihm einen missbilligenden Blick zu, wusste aber, dass er das Richtige tat. Er drohte ihr nicht mit dem Tod, er verweigerte ihn ihr.
»Warum könnt ihr mich nicht einfach sterben lassen?«, wimmerte die Frau. Der Zorn war aus ihren Zügen gewichen, jetzt war da nichts als Kummer.
Salazars Lächeln konnte innerhalb eines Augenblicks erscheinen, so war es bei den Geistern an der Absturzstelle gewesen. Wir mussten schleunigst verschwinden.
»Nur ein paar Antworten«, sagte Tyler, zog den Revolver, packte ihn am Lauf und hielt ihr den Griff entgegen – gerade weit genug entfernt, dass sie nicht herankam.
»Ihr seid keine von denen«, sagte sie, packte sich ins Haar und zog es sich vom Kopf. Achtlos ließ sie die weiße Perücke zu Boden gleiten. Ihr Schädel war kahl und fleckig, nur am Hinterkopf klebten ein paar verschwitzte Strähnen.
Ich konnte sehen, dass Tyler kurz stutzte, aber dann war sein Gesichtsausdruck wieder so verbissen wie zuvor.
»Krebs«, sagte die Frau. »Die Lunge, die Leber, der Magen.« Als sie lächelte, zog sich alles in mir zusammen. »Wenn ich könnte, würde ich euch alle anstecken.«
Emma trat mit einem der Hunde im Arm vor die Bühne.
Die Mimik der alten Frau entspannte sich. »Es ist eine Weile her, seit ich einen der drei von nahem gesehen habe«, sagte sie. »Seit der Chemotherapie laufen sie vor mir davon, schon seit Monaten. Ich stelle ihnen ihr Futter hin, aber ich sehe sie niemals. Manchmal habe ich sie gehört, wenn sie durch die Klappe ins Freie gelaufen oder wieder hereingekommen sind. Sie wittern den Tod.«
Der Hund in Emmas Arm stieß ein helles Bellen aus, strampelte sich frei und sprang zu Boden. Mit einem Winseln lief er zu seinen beiden Artgenossen. Gleich darauf hörten wir das Klimpern ihrer Metallmarken draußen vor der Tür.
Ohne den Umweg über den Aufgang zu nehmen, kletterte Emma auf die Bühne. Sie bückte sich, griff der Frau unter den Arm und stützte sie beim Aufstehen. Diesmal ließ die Alte es geschehen. Ich verschluckte meinen Protest, als meine Schwester sie behutsam zu den Stufen am Bühnenrand führte und ihr half, hinab in den Zuschauerraum zu steigen.
»Wer zum Teufel seid ihr?«, murmelte sie leise, während Emma sie an den Tischen vorbei Richtung Ausgang führte. Die Frau wirkte jetzt sehr klein und schmächtig in ihrem weiten Gewand.
Ich hob die Perücke auf, folgte den beiden und wollte sie ihr reichen, aber die Frau schüttelte nur verächtlich den Kopf. Ich wechselte einen Blick mit Tyler, der uns mit ein paar Schritten Abstand folgte, dann legte ich
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