Phantasmen (German Edition)
doch er flüsterte: »Haltet euch bereit!«
Emma nickte.
Die alte Frau sagte: »Ich bezweifle, dass Sie mir noch etwas antun können. Whitehead ist in diesen Tagen so machtlos wie Sie und ich. Er mag ein außergewöhnlicher Mann sein, aber er ist auch ein Lügner und ein Mörder. Er wird Ihnen in den Rücken fallen, genau wie er es bei uns getan hat. Und was immer seine wahren Ziele sein mögen – Sie und ich und Ihre Tochter spielen dabei ganz sicher keine Rolle.«
Das Geräusch, das auf ihre Worte folgte, hatte ich heute schon einmal gehört. Das Knirschen eines gespannten Revolverhahns.
Tyler hatte mir die Waffe vorhin tatsächlich aus dem Hosenbund gezogen, und er hatte trotzdem die Wahrheit gesagt: Er trug sie nicht mehr bei sich. Er musste sie vorhin unter die Seidenkissen des Sessels geschoben haben, in der Hoffnung, Teresa Salazar würde sie dort finden.
Der Söldnerführer fluchte. Draußen im Treppenhaus riefen mehrere Männer alarmiert durcheinander.
»Es tut mir leid für Ihre Tochter«, sagte die alte Frau.
»Nein!« , brüllte Haven.
Dann peitschte ein einzelner Schuss, und der Raum erstarrte in Stille.
19.
Havens aufgebrachte Stimme war die erste, die ich wieder hörte.
Dann traf mich der Ansturm des Geisterlächelns wie ein Tornado, warf mich zu Boden, fort von Tyler, der einen Augenblick früher reagiert hatte. Das Buch krachte durch die Glastür. Scherben explodierten in die Nacht hinaus. Ich wurde gepackt und zusammen mit Emma über knirschende Splitter ins Freie gezerrt.
Mein Herzschlag beschleunigte wie ein Trommelsolo. Der Schmerz im Brustkorb wurde innerhalb von Sekunden unerträglich. Ich sah Emma als hellen Fleck an mir vorbeiwischen, wurde immer noch gezogen, schnitt mich an zerbrochenem Glas und spürte es kaum.
Plötzlich prallte ich gegen etwas, kippte fast vornüber, fing mich und wurde wieder vorwärtsgestoßen. Dann stürzte ich, kam im nächsten Augenblick auf und war sicher, dass dies das Ende war. Mein Körper lag zerschmettert auf Stein, nur mein Gehirn arbeitete noch, angetrieben von einem Herzen, das stampfte und hämmerte wie eine Maschine kurz vor dem Kollaps.
Ich versuchte, den Namen meiner Schwester über die Lippen zu bringen, sah etwas oder jemanden neben mir, dann über mir, und schon wurde ich erneut gepackt, auf die Beine gezogen und konnte wieder laufen.
Mit jedem Schritt wurde es ein wenig besser, aber das merkte ich erst kurze Zeit später. Mein Körper fühlte sich an, als wäre er von Havens Konvoi überrollt worden, und trotzdem lief ich weiter und Emma war neben mir, hinkte ein wenig, aber sie rannte genau wie ich, und Tyler hielt uns beide an den Armen fest, zog uns und stieß uns und sorgte dafür, dass keine von uns zurückblieb.
Es kam mir vor, als liefen wir eine Ewigkeit, aber wahrscheinlich war es nicht einmal eine Minute. Erst unten am Haus entlang, dann eine Böschung hinunter, schließlich tiefer zwischen die Felsen. Hinter uns erklangen Schreie und Rufe, aber sie galten nicht uns.
Wir hatten den tödlichen Radius längst verlassen, schon mit dem Sprung oder Sturz vom Balkon, aber wir hielten erst an, als wir einen Felsen erreichten, der groß genug war, um uns dreien Deckung zu bieten. Von hier aus hatten wir einen leidlich guten Blick auf die Vorderseite von El Xanadú Dos, vor allem aber über die Hügelflanke mit den abgestorbenen Olivenbäumen und das futuristische Lichtermeer des Solarfelds. Noch immer herrschte tiefe Nacht, doch der eisige Schein Hunderter Neonröhren reichte bis zu den vorderen Bäumen und verlieh ihnen die Farbe angefaulter Knochen.
»Emma? Bist du verletzt?«
»Geht schon …« Ihre Stimme klang dünn und angeschlagen. »Und du?«
Ich tastete nach ihr und zog sie an mich. Zuerst erwiderte sie meine Umarmung ein wenig steif, dann umso heftiger.
»Tyler?«, entfuhr es mir plötzlich.
Er lehnte neben uns am Felsen, sein Kinn war auf die Brust gesunken, ein Bein ausgestreckt, das andere angewinkelt.
»Tyler! Oh, Shit!« Ich packte ihn an der Schulter, aber er reagierte nicht. »Emma, hilf mir!« Gemeinsam legten wir ihn auf den Rücken. Ich riss die Lederjacke auf – etwas rutschte heraus und fiel auf den Boden – und schob sein T-Shirt nach oben. Ich konnte die Muskulatur unter meinen überkreuzten Handflächen spüren, als ich sie fest auf seinen Brustkorb presste. Einmal, zweimal, dann immer wieder. Die Ausbilder in Kenia hatten uns erklärt, man solle im Kopf dazu Stayin’ Alive ablaufen lassen,
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