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Phantasmen (German Edition)

Phantasmen (German Edition)

Titel: Phantasmen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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um den richtigen Takt zu finden. Aber ich konnte unmöglich den sterbenden Tyler ansehen und dabei an die verdammten Bee Gees denken.
    Ich zählte atemlos mit, ganz leise nur, und nach dem dreißigsten Pressen überstreckte ich seinen Kopf nach hinten, hielt ihm die Nase zu und drückte meinen Mund ganz fest auf seinen. Zweimal atmete ich tief in ihn hinein, dann setzte ich die Herzdruckmassage fort. Wieder dreißig Mal, dann erneutes Beatmen. Jenseits des Felsens erklangen Stimmen, aber sie kamen nicht näher und ich dachte, dass wir es ohnehin nicht mehr ändern konnten, falls sie uns jetzt fanden. Tyler hatte uns in der Bibliothek das Leben gerettet. Ich würde nicht tatenlos zusehen, wie er starb.
    Vor dem Haus flammten Scheinwerfer auf. Ein Auto wendete mit durchdrehenden Reifen und jagte den Hügel hinab.
    Tyler stöhnte und schlug die Augen auf. Sie flackerten und fielen gleich wieder zu, aber er atmete, keuchte, krümmte sich zusammen wie unter Schmerzen, streckte sich dann wieder. Er murmelte ein paar Silben und Wortbrocken, erst auf Norwegisch, dann Englisch, »Was« und »Wie« und »War ich gerade«.
    Mit einem Ruck richtete er den Oberkörper auf und ließ zu, dass ich ihn am Arm packte und stützte. Er wurde zusehends klarer und nach ein paar Minuten war er fast der Alte.
    »Flavie«, flüsterte er.
    Ganz eindeutig der Alte.
    »Sie dürfen sie nicht wegbringen …«
    »Du weißt nicht, ob sie eine der vier ist. Vielleicht haben sie sie schon vor zwei Jahren mitgenommen.«
    »Solange es auch nur die Möglichkeit gibt … Ich muss da runter. Zur Hot Suite.«
    Emma und ich blickten zurück zum Haus. Die Tür stand weit offen, Licht fiel heraus in die Nacht. Aber weder dort oben auf dem Sockel noch am Fuß der Außentreppe tat sich etwas. Wie viele Männer hatten in dem Fahrzeug gesessen? Nur einer oder mehrere? Waren alle anderen wirklich tot?
    »Hat einer von euch gesehen, wen es da oben in der Bibliothek erwischt hat?«, fragte Emma. »Hat sie ihn erschossen oder sich selbst?«
    »Ich wette, dass Haven noch lebt«, sagte ich. Señora Salazar hatte sterben wollen; ihr Tod war zugleich die beste Waffe gegen Haven und seine Männer gewesen. Sich den Lauf in den Mund zu stecken, abzudrücken und sie alle mit einem Lächeln zu erledigen, war die effizienteste Methode. Und sie passte zur Denkweise dieser Frau.
    Genau wie Emma hatte ich ein paar kleinere Schnittwunden an den Knien und Unterschenkeln davongetragen, aber nichts Gefährliches. Als ich mich hochstemmen wollte, berührte meine rechte Hand etwas, das neben mir am Boden lag. Tylers Zündschlüssel. Er war aus seiner Jacke gerutscht, als ich sie geöffnet hatte. Nach kurzem Zögern ließ ich ihn in meiner Hosentasche verschwinden.
    »Ich gehe mit ihm«, sagte meine Schwester.
    »Emma«, begann ich, aber sie streckte mit einem Ruck die Hand aus und drückte mir ein wenig zu fest den Finger auf die Lippen. Sie hatte sich eine Reihe solcher Gesten aus dem Fernsehen abgeschaut, war aber nicht geübt darin, sie anzuwenden.
    »Diese Leute haben Mum und Dad ermordet«, sagte sie.
    Ich nickte. »Und jetzt wissen wir auch, warum. Was hast du vor? Willst du dir eines ihrer Gewehre unter den Nagel reißen und sie alle erschießen?«
    Tyler schob sich am Felsen hinauf und stand schließlich ein wenig wacklig auf den Beinen. Es hatte etwas Rührendes, diesen hünenhaften Kerl so benommen zu sehen. Ich war heilfroh, dass er noch lebte, und überlegte, ob ich ihm das sagen sollte. Aber gerade, als ich dazu ansetzen wollte, wandte er sich ab und machte sich auf den Weg hügelabwärts.
    »Macht, was ihr wollt«, sagte er und brachte mich erneut auf hundertachtzig.
    Emma folgte ihm.
    »Hallo?«, sagte ich. »Hört mir hier eigentlich irgendjemand zu?«
    Tyler blieb stehen und schaute zurück. »Du hast in allem Recht. Es ist gefährlich, vielleicht sterben wir, vielleicht geht ohnehin morgen die Welt unter. Aber es ändert nichts. Wenn ich die Chance habe, Flavie dort unten zu finden, dann versuche ich es.« Damit setzte er seinen Weg durch die Felsen fort, die auf dieser Seite des Hanges fast bis zur Umzäunung des Solarfeldes reichten. Nach wenigen Schritten hielt er noch einmal inne. »Danke für das, was du gerade getan hast.«
    »Wir sind quitt«, gab ich zurück, obwohl das nicht stimmte und auch ein wenig so klang, als wollte ich einen Westernhelden imitieren, passend zu dieser Wüste mit ihren verfallenen Kulissenstädten.
    »Nun komm schon mit«, sagte Emma,

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