Phantastische Weihnachten: 24 Geschichten zum Weihnachtsfest (German Edition)
nicht besonders groß zu sein. Seine Arme schlackerten neben ihm her als besäßen sie keine Muskeln, dafür aber viel zu viele Gelenke. Der ganze Körper hing merkwürdig schief auf seinen stelzenartigen Beinen. Über seinen Schultern hing ein zerfetzter, dunkelroter Mantel mit einem schmutzigweißen Fellkragen, der im schwachen Licht zu glühen schien.
Ein Schauder überlief ihren Körper. Instinktiv spürte sie, dass irgendetwas mit dieser Person nicht stimmte. Und er steuerte direkt auf sie zu! Ellie kauerte sich hinter einem kahlen Strauch zusammen. ‚Vielleicht sieht er mich nicht und geht einfach weiter.’
Doch das wäre wohl zu viel verlangt gewesen. Die ungleichmäßigen Schritte verstummten genau vor ihrem Versteck. Sie erstarrte, wagte es kaum zu atmen. ‚Bitte, geh weiter! Bitte, geh einfach weiter! Ich will doch nur mit meinen Eltern Weihnachten feiern.’
„Weih… nachten… feiern?“
Vor ihren Augen zerteilte sich das Gebüsch. Ein graues, eingefallenes Gesicht, dessen karger Haarschopf unter einer dunkelroten, halb vermoderten Strickmütze nur notdürftig verborgen wurde, erschien in dem Spalt. Ellie unterdrückte mühsam einen spitzen Schrei.
„Weih… nachten?“, wiederholte der Fremde. Seine Stimme klang kehlig und abgehackt, als bereitete es ihm große Mühe, die Laute zu formen.
„Weihnachten“, bestätigte Ellie mit zitternder Stimme. „Heute ist Heiligabend.“
„Hei… lig…“
Er brach ab, legte den Kopf schief und sah sie aus nachtschwarzen, toten Augen an. Kein Lebensfunken regte sich in ihnen, keinerlei Emotionen. Noch nie hatte sie sich so sehr gefürchtet wie in diesem Augenblick. Ihre Knie fühlten sich schwabbelig an wie Wackelpudding, deswegen traute sie es sich nicht zu, wegzulaufen.
„Heiligabend“, sagte sie, um über die Panik in ihrem Inneren hinwegzutäuschen. „Ich bin hergekommen, um mit meinen Eltern Weihnachten zu feiern. Da vorne liegen sie nämlich, weißt du? Aber irgendwie will der Typ oben im Himmel sie nicht gehen lassen und ich muss hier warten. Dabei will ich sie nur noch einmal sehen. Es ist Weihnachten. Sie sollten sich zumindest vernünftig von mir verabschieden.“ Ellie schluckte nervös und verstummte. Das Gebrabbel schien auch nicht wirklich weiterzuhelfen. Der zerfledderte Fremde musterte sie ausdruckslos. Wahrscheinlich hatte er nicht ein Wort von dem, was sie eben gesagt hatte, verstanden.
Eine halbe Ewigkeit verging. Dann hob ihr Gegenüber wie in Zeitlupe einen Arm und deutete auf die beiden Gräber hinter ihnen.
„El… tern?“, fragte er. Ellie nickte stumm.
„Weih… nachten?“ Sie sah zu Boden.
„Ver… ab… schie… den?“
Ihr Herz pochte wie wild in ihrer Brust. Zögerlich nickte sie erneut. „Ja, verabschieden. Ich will, dass sie sich von mir verabschieden. Wenn sie mich schon einfach so verlassen, sollen sie sich wenigstens verabschieden.“
Die Mundwinkel des unheimlichen Mannes hoben sich zur Parodie eines Grinsens. „Ver… ab… schie… den.“ Er nickte mehrmals, bis seine Mütze ihm beinahe von der Stirn rutschte. Schließlich erhob er sich und wandte sich den Gräbern ihrer Eltern zu. Ellie blieb, wo sie war, beobachtete mit einer Mischung aus Schrecken und Neugierde, was nun geschah.
Der Fremde hob seine Arme in die Höhe und blieb einige Sekunden lang stocksteif stehen. Tiefe, gutturale Laute entkamen seinem Mund, die einen Schauder nach dem nächsten Ellies Rückgrat hinunterjagten. Dann spürte sie, wie die Erde unter ihr bebte. Erschrocken kam sie auf die Beine, blickte sich hektisch um. Das Beben ging von der Stelle aus, wo der Fremde stand. Der gefrorene Boden bekam Risse, besonders dort, wo ihre Eltern begraben lagen.
Genauso plötzlich wie es begann, endete das Erdbeben auch wieder. Ein Seufzen fuhr durch das gesamte Erdreich. Ein tiefer Riss zerteilte den Grund genau über der letzten Ruhestätte ihrer Eltern.
„Ver.. ab.. schie… den“, sagte der Fremde erneut, verbeugte sich vor dem verschreckten Kind und trat in den Hintergrund.
Viel Zeit blieb Ellie nicht, um über sein merkwürdiges Verhalten nachzudenken, denn kurz darauf erschien eine bleiche, knochige Hand an der oberen Erdkante über dem Grab. Nun konnte sie sich einen schockierten Schrei nicht länger verkneifen. Mit großen Augen sah sie zu, wie nacheinander zwei bleiche, eingefallene Körper aus dem Spalt hervorkrochen. Sie erkannte das schicke, schwarze Kleid, in dem ihre Mutter begraben wurde, ebenso wie den
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