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Phantom des Alexander Wolf

Phantom des Alexander Wolf

Titel: Phantom des Alexander Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: G Gasdanow
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sich in allem nieder, was ich tat und unternahm; ich wusste jedesmal, dass der seelische Einsatz, zu dem ich im Grunde fähig sein müsste und den andere Menschen zu Recht von mir erwarteten, über meine Kräfte ginge – und darum maß ich vielen praktischen Dingen keine Bedeutung bei, darum wirkte mein Leben im großen und ganzen so zufällig und ungeordnet. Dies hatte auch meine Berufswahl gelenkt; statt dass ich meine Zeit literarischer Tätigkeit widmete, zu der ich mich hingezogen fühlte, die jedoch gehörigen Zeitaufwand und uneigennützigen Einsatz verlangt hätte, gab ich mich mit Journalismus ab, einer sehr unregelmäßigen Arbeit von ermüdender Vielfalt. Je nach Bedarf musste ich über alles mögliche schreiben, angefangen von politischen Artikeln bis hin zu Filmkritiken und Berichten über Sportwettkämpfe. Das erforderte weder besondere Mühe noch spezielle Kenntnisse; außerdem verwendete ich entweder ein Pseudonym oder Initialen und entzog mich damit der Verantwortung für das, was ich schrieb. Übrigens hatte mich das die Erfahrung gelehrt; von den Menschen, über die ich ein nicht so positives Urteil fällen musste, war fast nie jemand mit meiner Reaktion einverstanden, ein jeder fühlte sich unbedingt bemüßigt, mir meinen Irrtum persönlich zu erklären. Bisweilen musste ich über Dinge schreiben, die nicht im entferntesten in meine Kompetenz fielen, das passierte, wenn ich einen erkrankten oder verreisten Kollegen in seinem Fach vertrat. Einmal zum Beispiel kamen lauter Nachrufe auf mich zu, innerhalb von zwei Wochen schrieb ich sechs davon, weil mein Kollege, der sich mit ungewöhnlichem Eifer und seltener professioneller Redlichkeit sonst damit befasste – sein Spitzname war Bossuet –, mit einer doppelseitigen Lungenentzündung im Bett lag. Als ich ihn besuchen kam, sagte er mit ironischem Lächeln:
    »Lieber Kollege, ich hoffe, dass Sie sich nicht noch einen kurzen Nachruf auf mich abnötigen müssen. Von Ihrer Seite wäre es das allergrößte Opfer, das wir zu Recht erhoffen dürften.«
    »Mein teurer Bossuet«, sagte ich, »ich verspreche Ihnen kategorisch, dass ich auf Sie keinen Nachruf schreiben werde. Ich glaube, niemand brächte das besser fertig als Sie selbst.«
    Am erstaunlichsten war, dass Bossuet tatsächlich einen kurzen Nachruf auf sich selbst vorbereitet hatte, den er mir zeigte und in dem ich alles fand, woran ich nun gewöhnt war, alle positiven und klassischen Passagen dieses Genres: die uneigennützige Tätigkeit wie den Tod auf dem Posten – pareil à un soldat, il est mort au combat 5 –, die makellose Vergangenheit wie den Kummer der Familie – que vont devenir ses enfants? 6 – und so weiter.
    Die Zeit der Nachrufe war für mich insbesondere auch deshalb denkwürdig, weil der letzte Artikel, der sechste, mir von der Redaktion zurückgegeben wurde mit der Forderung, ich solle die positiven Seiten des Verstorbenen stärker akzentuieren. Was umso schwieriger war, als es sich um einen Politiker handelte, der an progressiver Paralyse gestorben war; sein ganzes Leben zeichnete sich durch erstaunliche Beständigkeit aus: ununterbrochen dunkle Geschäfte, gefälschte Bankbilanzen, zahllose Parteiverrate, zudem Bankette, Besuch der bekanntesten Cabarets und der allerteuersten Bordelle, schließlich der Tod als Folge einer Geschlechtskrankheit. Die Arbeit war eilig, ich saß den ganzen Abend daran, hatte nicht rechtzeitig dinieren können, und erst als ich die letzten Zeilen geschrieben und den Artikel in die Druckerei gebracht hatte, ging ich in das russische Restaurant, wo ich an Heiligabend gewesen war; dort begegnete ich nach langer Pause Wosnessenski wieder, der erneut allein saß und sich aufrichtig über mich freute, wie über einen alten Bekannten. Salopp und ungezwungen sprach er mich an, als ob wir uns viele Jahre kennten; wie immer war an allem, was er sagte oder tat, jedoch nichts Schockierendes. Er fragte mich, wo ich verschwunden sei und ob man jedesmal auf einen hohen Feiertag warten müsse, um mich zu sehen. Dann wollte er wissen, was ich eigentlich machte. Als ich sagte, ich sei Journalist, geriet er ungewöhnlich in Feuer.
    »Haben Sie ein Glück«, sagte er, »mir hat Gott das nicht geschenkt.«
    »Worin liegt das Glück?«
    »Erlauben Sie, wäre ich Journalist, würde ich Dinge schreiben, dass alle Welt nur staunen würde.«
    »Dafür muss man nicht Journalist sein, glaube ich. Sie sollten es versuchen.«
    »Ich habe es versucht«, erwiderte er, »es

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