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Phantom des Alexander Wolf

Phantom des Alexander Wolf

Titel: Phantom des Alexander Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: G Gasdanow
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bilden. Ab dem Moment, da ich das weiß, wird die Welt für mich eine andere, ich kann nicht mehr leben wie alle übrigen, die weder über diese Macht verfügen noch über diese Einsicht, weder ein Bewusstsein haben von der ungewöhnlichen Zerbrechlichkeit aller Dinge noch von der eiskalten und ständigen Nachbarschaft des Todes.
    Dies war die schlichte logische Schlussfolgerung aus der eigenwilligen Philosophie, von der Wolf mir Fragmente dargelegt hatte, war eine Erscheinungsform jener Idee der Unbeweglichkeit, die für mich vollkommen unannehmbar war, gegen die sich jedoch nur mit ihrer eigenen Waffe ankämpfen ließ; und die Anwendung dieser Kampfmethode rückte unwillkürlich die unheilvolle und tote Welt wieder in meine Nähe, deren Phantom mich so lange verfolgt hatte. Was ließ sich dieser Philosophie noch entgegensetzen, und weshalb rief jedes ihrer Worte in meinem Inneren unweigerlich Protest hervor? Auch ich kannte und fühlte die ganze Zerbrechlichkeit der sogenannten positiven Konzeptionen, auch ich wusste, was Tod ist, doch empfand ich weder Angst davor, noch wurde ich davon angezogen. Da war etwas nur mühsam zu Bestimmendes, das mich auf diesem beschwerlichen Terrain, der Erkenntnis letzter Wahrheiten, nicht bis zum Ende gehen ließ. Ich dachte so angespannt darüber nach, dass es mir allmählich sogar schien, als hörte ich ein Geräusch näher kommen, wie wenn es stärker und stärker würde und bis zu mir dringen müsste. Mir schien, als wüsste ich die Antwort auf die Frage und hätte sie immer gewusst und als wäre sie derart natürlich und offensichtlich, dass mir im letzten Moment niemals Zweifel kämen, wie die Antwort zu sein hätte. Jetzt aber, heute, in diesem Moment, konnte ich sie nicht finden.
    Ich holte eine Zigarette hervor und zündete ein Streichholz an, das aufflammte und augenblicklich erlosch, dabei hinterließ es den Geruch nicht ganz verbrannten Phosphors. Und da sah ich vor mir auf einmal dichtbelaubte Bäume in metallischem Mondlicht und die grauen Haare meines Gymnasiallehrers, der neben mir auf einer geschwungenen Holzbank saß. Es war früh im Herbst, spätabends. Am nächsten Morgen sollten meine Abschlussprüfungen beginnen. Ich hatte den ganzen Abend gearbeitet und war dann in den Garten hinausgegangen. Als ich durch den langen Flur des Gymnasiums schritt, sagten mir Kameraden, denen ich begegnete, vor einer Stunde habe eine unserer Lehrerinnen, eine junge Frau von vierundzwanzig, Selbstmord begangen. Im Garten sah ich den Lehrer auf der Bank sitzen. Ich setzte mich neben ihn, holte eine Zigarette hervor, zündete ein Streichholz an – und das war damals genauso wie jetzt sofort erloschen und ich hatte den gleichen Geruch wahrgenommen.
    Ich fragte den Lehrer, wie er über den Tod dieser Frau denke und über die bittere Ungerechtigkeit ihres Schicksals, sofern sich auf Begriffe wie Schicksal und Tod unsere alltäglichen Wörter – bitter, traurig oder unverdient – überhaupt anwenden ließen. Er war ein sehr kluger Mann, vielleicht der klügste, den ich je gekannt habe, und ein vortrefflicher Gesprächspartner. Selbst verschlossene oder erbitterte Menschen empfanden ihm gegenüber ein ungewöhnliches Vertrauen. Niemals missbrauchte er auch nur im geringsten seine gewaltige geistige und kulturelle Überlegenheit, darum war es besonders leicht, mit ihm zu reden.
    Er sagte damals unter anderem zu mir:
    »Es gibt natürlich kein einziges Gebot, dessen Berechtigung sich unwiderlegbar beweisen ließe, wie es auch kein einziges moralisches Gesetz gibt, das unbedingt zwingend wäre. Überhaupt existiert die Ethik nur in dem Maße, wie wir sie zu akzeptieren bereit sind. Sie fragen mich nach dem Tod. Ich würde sagen – nach dem Tod und seinen zahllosen Erscheinungsformen. Ich fasse Tod und Leben, gar nicht konkret, als zwei entgegengesetzte Grundprinzipien auf, die eigentlich fast alles umschließen, was wir sehen, fühlen und erkennen. Sie wissen, dass das Gesetz einer solchen Gegenüberstellung so etwas ist wie ein kategorischer Imperativ; außerhalb von Verallgemeinerung und Gegenüberstellung vermögen wir fast nicht zu denken.«
    Das glich nicht dem, was er uns in der Klasse sagte. Ich lauschte, ließ mir kein Wort entgehen.
    »Ich bin müde heute«, sagte er, »ich muss schlafen gehen. Haben Sie gearbeitet, sich auf die Prüfung vorbereitet? Ich wäre gern an Ihrer Stelle.«
    Er stand von der Bank auf; ich stand ebenfalls auf. Das Laub war unbeweglich, im Garten

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