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Phantom des Alexander Wolf

Phantom des Alexander Wolf

Titel: Phantom des Alexander Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: G Gasdanow
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herrschte Stille.
    »Bei Dickens steht irgendwo ein wunderbarer Satz«, sagte er. »Merken Sie sich den, er ist es wert. Ich weiß nicht mehr, wie er wörtlich lautet, aber dem Sinn nach: Uns wurde das Leben unter der unabdingbaren Voraussetzung geschenkt, dass wir es tapfer verteidigen bis zum letzten Atemzug. Gute Nacht.«
    Und jetzt stand ich genauso vom Sessel auf wie damals von der Bank, auf der ich neben ihm gesessen hatte, und wiederholte die Worte, die nun besonders bedeutsam klangen:
    »Uns wurde das Leben unter der unabdingbaren Voraussetzung geschenkt, dass wir es tapfer verteidigen bis zum letzten Atemzug.«
    * * *
    In diesem Augenblick schellte das Telefon. Ich nahm den Hörer ab. Jelena Nikolajewnas Stimme fragte:
    »Wo steckst du? Ich habe Sehnsucht nach dir. Was machst du gerade?«
    Und kaum hatte ich den ersten Laut dieser Stimme gehört, durchs Telefon wie üblich verändert, hatte ich alles, worüber ich gerade nachdachte, so augenblicklich und vollständig vergessen, als hätte es nie existiert.
    »Ich stehe vom Sessel auf«, sagte ich. »In der linken Hand halte ich den Telefonhörer. Mit der rechten Hand stecke ich Zigaretten und Streichhölzer in die Sakkotasche. Danach schaue ich auf die Uhr: Es ist jetzt fünf vor sechs. Um Viertel nach sechs werde ich bei dir sein.«
    Wir waren früh mit dem Diner fertig, gegen sieben. Sie trug ein leichtes Sommerkleid, wir saßen in ihrem Zimmer und tranken Tee, dazu gab es eine unglaublich wohlschmeckende Schokoladentorte, die Anny gebacken hatte; sie knackte und schmolz auf der Zunge, sehr angenehm war die leichte Spur eines fremden Gewürzes.
    »Wie findest du die Torte?«
    »Köstlich«, sagte ich. »Sie hat zwar etwas Negritanisches, doch etwas angenehm Negritanisches sozusagen, wie ferner Widerhall von Negergesang.«
    »In Lyrismen ergehst du dich nur unter ganz bestimmten Umständen.«
    »Darf ich erfahren, unter was für Umständen?«
    »Oh, das ist gar nicht schwierig. Zwei Dinge gibt es, denen du niemals gleichgültig gegenüberstehst: erstens Essen, zweitens Frauen.«
    »Danke für die schmeichelhafte Ansicht. Darf ich dir in diesem Fall zu deiner Wahl mein Mitgefühl aussprechen?«
    »Ich habe nicht gesagt, dass ich diese Wesenszüge schlecht finde.«
    Ich war berauscht von ihrer Gegenwart, und das stand wahrscheinlich in meinen Augen, denn sie bemerkte missbilligend:
    »Wie ungeduldig du bist, wie begierig! Musst du mich unbedingt so halten, den Arm um meinen Körper gelegt, dass du mir die Rippen eindrückst?«
    »Wenn ich einmal sechzig bin, Lenotschka, werde ich über die Eitelkeit alles Irdischen und die Unzuverlässigkeit der Gefühle nachdenken. Ich denke sogar jetzt manchmal darüber nach.«
    »Wahrscheinlich dann, wenn die Umstände nicht gegeben sind, unter denen dein Hang zum Lyrischen hervorbricht.«
    Ich nahm einen neuen Wesenszug an ihr wahr, den sie am Anfang unserer intimen Nähe nicht gehabt hatte: Sie zog mich oftmals auf, doch stets kameradschaftlich, ohne den geringsten Wunsch, mir etwas wirklich Unangenehmes zu sagen. Vielleicht rührte es daher, weil meine ironische Einstellung zu vielen Dingen sie angesteckt hatte und sie unwillkürlich in diesen Ton verfiel. Zudem schien mir außer Zweifel zu stehen, dass sie nach und nach die innere Freiheit und Unmittelbarkeit gewann, an der es ihr vorher so offenkundig gemangelt hatte.
    Ich schlug ihr vor, für ein paar Tage ins Grüne zu fahren; sie war sofort einverstanden. Am Morgen des nächsten Tages verließen wir Paris mit dem Auto, und eine ganze Woche lang reisten wir umher, ohne ein bestimmtes Ziel, hundert oder hundertfünfzig Kilometer von der Stadt entfernt. Als sich einmal überraschend herausstellte, dass kein Benzin mehr im Tank war, sahen wir uns genötigt, im Wald zu übernachten, im Auto. Es gab ein Gewitter mit starkem Regen, und im Licht des Blitzes sah ich durch die dreckbespritzten Wagenfenster die Bäume, die uns von allen Seiten umstanden. Jelena Nikolajewna schlief, auf dem Sitz zusammengerollt, und hatte mir ihren warmen und schweren Kopf auf die Knie gelegt. Ich saß und rauchte; als ich für einen Augenblick das Fenster herunterließ, um die Asche von der Zigarette abzustreifen, schlug das ruhelose Geräusch unzähliger, von den Blättern fallender Tropfen an mein Ohr; es roch nach Erde und nassen Baumstämmen. Nicht weit entfernt brachen mit feuchtem Knacken kleine Zweige, dann flaute der Regen einen Moment ab, danach zuckte erneut der Blitz, grollte der

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