Phantom des Alexander Wolf
mich an den Schreibtisch, konnte aber nicht arbeiten. Ich schloss die Augen – und vor mir erschien das verzerrte Gesicht des Londoner Verlegers. »Natürlich muss man die außerordentlichen Umstände und Ihr damaliges Alter berücksichtigen. Aber wenn Ihr Schuss präziser gewesen wäre…« – »Beneath me lay my corpse with the arrow in my temple…« Wieder sah ich mit ungewöhnlicher Klarheit den Weg und den Wald, alles war hier, in meinem Zimmer, bei mir, hatte den Raum überwunden, der mich in diesem Augenblick vom fernen Süden Russlands trennte. Wolf tat mir aufrichtig leid. »Jene Welt, die ich verlor, ich weiß nicht, weshalb.« Ja, und dann diese tröstliche Philosophie: dass wir jeden Tag durch kosmische Katastrophen gingen, doch das Unglück sei, dass die kosmischen Katastrophen uns gleichgültig ließen, während die geringste Veränderung in unserem eigenen, so unbedeutenden Leben Schmerz oder Bedauern hervorrufe, und daran lasse sich überhaupt nichts ändern. »Wer bringt uns diese Zeit zurück?« Niemand natürlich, aber wenn dieses Wunder einträte, fänden wir uns in ein fremdes und fernes Leben versetzt, und wer weiß, ob es besser wäre als das unsere. Im übrigen, was heißt besser? Das Leben, das uns beschieden ist, kann nicht anders sein, keine Macht wäre imstande, es zu ändern, nicht einmal das Glück, welches zur selben Kategorie gehört wie die Vorstellung vom Tod, da es die Idee der Unbeweglichkeit in sich birgt. Ohne Unbeweglichkeit kein Glück – jenes Glück, das ein orientalischer Herrscher »weder in den Büchern der Weisheit noch auf dem Rücken der Pferde, noch an der Brust einer Frau« finden konnte. Lenotschka könnte sagen: »Wenn wir beide uns einmal trennen und ich einen anderen Geliebten haben werde…« Vielleicht würde sie ihm nichts von mir erzählen, vielleicht würde sie lakonisch bemerken: »Zu der Zeit hatte ich mit einem Mann eine Affäre…« – und dieser Satz würde alle Nächte umfassen, als sie mir gehört hatte, ihr erhitztes Gesicht, ihre Brüste, zusammengepresst in meinen Umarmungen, die Grimasse des letzten Augenblicks und alles, was dem vorausgegangen war; danach kämen noch jemandes Umarmungen und dieselbe Stimme mit denselben Intonationen, fast unpersönlichen im Grunde, weil sie mit mir so gesprochen hatte und davor mit anderen, und bestimmt hatte es jedesmal gleichermaßen aufrichtig geklungen – welch ein Reichtum sinnlicher Möglichkeiten und welche Armut des Ausdrucks! Ja, natürlich, auch die allerschönste Frau kann nicht mehr geben, als sie hat. Und sie hat meist gerade so viel, wie wir an Seelenkraft aufbringen, um es zu erschaffen und uns vorzustellen – und deshalb war Dulcinea unvergleichlich. Noch so eine Täuschung: zu meinen, die Wirklichkeit habe eher recht als die Einbildung. Und vielleicht verdiente Lenotschka meinen Tadel gar nicht, denn was hinderte mich zu denken, sie werde immer nur mir gehören, sie habe niemanden geliebt außer mich, und wenn sie meinte, sie habe geliebt oder werde lieben, so wäre das ein ungeheurer und ganz offenkundiger Irrtum, auch wenn sie es selbst nicht begriffe? Und wäre auch ein Weggang unvermeidlich und ein Treubruch unvermeidlich, so gehört doch für eine bestimmte Zeitspanne alles, was ihr Wesen ausmacht, mir, und das ist das Allerwichtigste, danach gäbe es nur noch Bruchstücke, die anderen zufielen, und diese anderen würden niemals wissen, was sie mir gegeben hat, den ganzen Reichtum der Seele und des Körpers, den ich von ihr als Geschenk erhalten habe – was könnte ihr danach überhaupt noch bleiben? Ich fühlte sie auf einmal so nah bei mir, dass mir der absurde Wunsch kam, den Kopf zu drehen und zu schauen, ob sie nicht hier sei; ich spürte so deutlich den Duft ihres Parfüms, die Bewegung ihres Körpers unterm Kleid, mir war, als sähe ich ihre Augen und hörte die unvermittelt abfallende Intonation ihrer Stimme, die mein dankbares Gedächtnis für immer bewahrt hat. Ich liebte sie mehr als irgendjemand sonst und natürlich mehr als mich selbst, und dank diesem begierigen Verlangen kam ich, einmal im Leben, dem biblischen Ideal nahe – wenn es denn in der Bibel um solch eine Liebe ginge. »Denken Sie daran, dass Jesus Christus stets traurig gewesen ist.« Und wieder das Phantom des Alexander Wolf. Der Verfasser von »I’ll Come Tomorrow« hatte etwas an sich, bei dem ich nicht verweilen mochte. Doch ich musste bis zum Ende gehen. Ich fühlte mich unendlich schuldig vor ihm. Ja,
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