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Phantom

Phantom

Titel: Phantom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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auf sein rechtes Bein. Die da.« Er deutete zum Fußende des Tisches, wo auf dem Boden Säcke aufgestapelt waren. »Jeder wiegt zehn Pfund. Durch den Stromstoß wird das Bein verzerrt, und das Gewicht der Säcke richtet die Gliedmaßen wieder aus. Wenn die Verbrennungen so schlimm sind, wie sie es bei Waddell waren, legen wir Mullkompressen auf. Nach Ablauf der zehn Minuten haben wir ihn wieder auf die Bahre gehoben und zum Lebensmittelaufzug getragen. Wenn wir die Treppe genommen hätten, wäre mindestens ein Leistenbruch fällig gewesen – der Kerl war ja ein Koloß! Wir schleppten ihn durch den Vordereingang raus und verfrachteten ihn in die Ambulanz, wie immer, wenn unsere Schützlinge den Blitzschlag hinter sich haben.«
    Schwere Türen krachten zu, Schlüssel klirrten, Schlösser klickten, während Roberts weiter seine Sprüche klopfte. Als wir aus dem Gebäude traten, atmete ich gierig die kalte Luft ein. Ich fühlte mich elend und konnte es kaum erwarten, lange unter der heißen Dusche zu stehen und frische Sachen anzuziehen.
    »Leute wie Roberts stehen nur eine Stufe über den Häftlingen«, sagte Marino, als er den Motor anließ. »Manche sind sogar keinen Deut besser als die Typen, die sie beaufsichtigen.«
    Als er an einer auf Rot geschalteten Ampel anhielt, schimmerten die Regentropfen auf der Windschutzscheibe wie Blut.
    »Haben Sie Zeit, sich etwas anzusehen?« fragte er.
    »Wenn es wichtig ist, könnte ich mir vielleicht die Zeit nehmen.« Ich hoffte, er würde meine Unlust heraushören und mich gleich nach Hause fahren. Doch es kam anders.
    »Ich möchte Eddie Heaths letzte Schritte rekonstruieren – für Sie. Vor allem sollen Sie sehen, wo der Junge gefunden wurde.«
    Die Heaths wohnten östlich der Chamberlayne Avenue oder, wie Marino es ausdrückte, »auf der falschen Seite« der Straße. Ihr kleines Ziegelhaus lag nur ein paar Blocks von dem Supermarkt entfernt, zu dem Eddie gegangen war, um die Pilzcremesuppe für seine Mutter zu besorgen. Mehrere Wagen standen in der Zufahrt. Rauch stieg aus dem Kamin auf und verschmolz mit dem gleichfarbigen Himmel. Die Fliegentür wurde geöffnet, und eine alte Frau in einem viel zu großen schwarzen Mantel erschien, drehte sich kurz zu jemandem im Haus um und stieg dann vorsichtig die Stufen herunter, wobei sie sich an das Geländer klammerte, als befände sie sich auf stürmischer See. Mit leerem Blick streifte sie unseren langsam vorbeirollenden Dienstwagen, einen weißen Ford.
    »In dieser Gegend wohnten früher keine Schwarzen«, sagte Marino. »Als ich nach Richmond kam, war das ein sicheres Viertel. Lauter anständige, hart arbeitende Leute, die ihren Vorgarten in Ordnung hielten und sonntags zur Kirche gingen. Die Zeiten sind vorbei. Heute würde ich meine Kinder nach Einbruch der Dunkelheit hier nicht allein rumlaufen lassen, besonders, seit zwei Meilen weiter östlich dieses Viertel mit Sozialwohnungen entstanden ist. An dem Abend, als es passierte, nahm Eddie die Abkürzung zur Azalea und bog dann nach rechts ab, wie wir es auch gerade tun. Da links neben der Tankstelle ist Lucky’s.« Er deutete auf einen Supermarkt mit einem grünen Hufeisen auf der Leuchttafel.
    »Die Ecke dort drüben ist ein beliebter Platz für Dealer. Es ist zum Kotzen: Kaum haben wir die einen festgenommen, sind schon die nächsten da.«
    »Besteht die Möglichkeit, daß Eddie mit Drogen zu tun hatte?« Zu Beginn meiner Laufbahn wäre eine solche Frage noch weit hergeholt gewesen, doch inzwis chen lag sie traurigerweise nahe: Annähernd zehn Prozent der wegen Drogendelikten Verhafteten waren Jugendliche.
    »Bisher deutet nichts darauf hin, und wenn mich mein Instinkt nicht trügt, wird sich in dieser Richtung auch nichts ergeben.«
    Er hielt vor dem Supermarkt an, wir blieben aber im Auto sitzen. Reklameplakate klebten an den großen Fensterscheiben. Durch die Glastüren sahen wir eine lange Schlange an der Kasse stehen. Ein junger Schwarzer in Stulpenstiefeln und Ledermantel kam aus dem Laden und ging zu dem öffentlichen Fernsprecher, der neben dem Eingang hing. Ein rotgesichtiger Mann in farbbeklecksten Jeans entfernte die Zellophanhülle von einer Zigarettenschachtel, bevor er in den Laster stieg, der vor uns parkte.
    »Ich wette, hier hat er den Täter getroffen«, sagte Marino.
    »Und wie ist es Ihrer Meinung nach abgelaufen?«
    »Ich denke, als Eddie rauskam, hielt der Kerl ihn auf und erzählte ihm irgendeinen Schmus, um sein Vertrauen zu gewinnen. Daraufhin

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