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Phantom

Phantom

Titel: Phantom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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umlegen – und das schafft man nicht ohne Trittleiter.«
    »Wie groß sind Sie? Einsfünfundachtzig?«
    »Gutes Augenmaß. Wenn ich die Klappe so nicht aufmachen kann, dann konnte der Täter es wohl auch kaum. Hier in Henrico glauben sie, daß der Bursche den Jungen an den Container gelehnt und dann versucht hat, die Klappe zu öffnen – wie man eine Mülltüte kurz abstellt, um die Hände frei zu haben. Als er den Deckel nicht aufkriegte, packte ihn die Panik, und er haute ab.«
    »Er hätte ihn zu den Bäumen schaffen können«, meinte ich. »Da ist ein Zaun.«
    »Der ist doch höchstens anderthalb Meter hoch. Zumindest hätte er Eddie hinter dem Container deponieren können. S o mußte er doch jedem, der nach hier hinten kam, sofort auf f allen.«
    Der Strahl von Marinos Taschenlampe bohrte sich durch den Maschendrahtzaun. Die Regentropfen wirkten in dem Lichtkegel wie ein glitzernder Glasperlenvorhang. Ich konnte kaum noch die Finger abbiegen, Wasser rann mir von den Haaren in den Kragen, mein ganzes Gesicht war taub. Wir kehrten ins Auto zurück, und Marino drehte die Heizung voll auf.
    »Trent und seine Leute sind total auf die Container-Theorie fixiert«, sagte er. »Meiner Meinung nach diente das Ding dem Täter nur als Stütze für sein ›Kunstwerk‹.«
    Ich starrte in den Regen hinaus.
    »Ich denke nämlich, er brachte den Jungen nicht hierher, um ihn zu verstecken, sondern um sicherzugehen, daß er gefunden wurde. Die Burschen hier in Henrico wollen das einfach nicht einsehen, aber für mich ist es sonnenklar.«
    Ich sah Eddie so deutlich dort drüben sitzen, als hätte ich ihn gefunden. Und plötzlich traf mich wie ein Schlag in die Magengrube die Erkenntnis. »Wann haben Sie sich zuletzt mit dem Robyn-Naismith-Fall befaßt?« fragte ich Marino.
    »Ist schon eine Weile her, aber das macht nichts: Ich erinnere mich an jede Einzelheit«, antwortete er, ohne mich anzusehen. »Ich war gespannt, ob Sie drauf kommen würden. Mir fiel es gleich auf, als ich den Bericht des Polizisten las, der den Jungen fand.«

3
    An diesem Abend setzte ich mich mit einem Teller Ge müsesuppe ins Wohnzimmer an den Kamin. Ich hatte das Licht gelöscht und die Vorhänge zurückgezogen, um in den Garten hinausschauen zu können. Der Eisregen war in Schnee übergegangen, der Rasen mit einer weißen Schicht überzuckert, und Rhododendronblätter wirbelten im Wind, der die Äste schüttelte.
    Ich fühlte mich ausgelaugt und glaubte, wieder die aufdringlichen Hände der Grimes zu spüren und die muffige Kälte der Gefängnisflure zu riechen. Ich erinnerte mich daran, wie ich in einer Hotelbar in New Orleans bei der alljährlichen Tagung der American Academy of Forensic Sciences Dias gegen das Licht hielt – damals war der Mord an Robyn Naismith noch nicht aufgeklärt – und mit Kollegen über die Verletzungen diskutierte, während um uns herum ausgelassen der Mardi Gras gefeiert wurde.
    Sie war mit Faustschlägen, Bissen und einem Messer traktiert worden. Als sie tot war, zog der Mörder sie aus. Es gab keine Hinweise darauf, daß er sie vergewaltigt hatte. Hauptsächlich schien es ihm darauf angekommen zu sein, sie zu beißen und wiederholt auf die fleischigen Regionen ihres Körpers einzustechen. Als ihre Freundin auf dem Heimweg von der Arbeit bei ihr vorbeischaute, war die Haustür nur angelehnt, und sie fand Robyns mißhandelte Leiche nackt an den Fernseher gelehnt, die Arme lose an den Seiten, den Kopf nach vorne geneigt. Die Kleider lagen zusammengelegt neben ihr aufgestapelt. Sie sah aus wie eine blutige Puppe, die einer Bestie als Spielzeug gedient hatte.
    Einer der Psychiater sagte beim Prozeß, Waddell sei nach der Tat von Reue überwältigt worden und habe stundenlang bei der Toten gesessen und mit ihr gesprochen. Ein von der Staatsanwaltschaft benannter Gerichtspsychologe vermutete hingegen, daß Waddell Robyn vom Fernsehen her gekannt habe und es als symbolischer Akt zu verstehen sei, daß er die Leiche an den Fernseher lehnte: Er habe sie ihrem Medium sozusagen zurückgegeben. Die Spekulationen wurden immer verstiegener.
    Die groteske Präsentation der Leiche der siebenundzwanzigjährigen Moderatorin war Waddells spezielle Handschrift. Jetzt, zehn Jahre später, war ein kleiner Junge umgebracht worden, und jemand hatte sein Werk auf die gleiche Weise signiert – am Abend vor Waddells Hinrichtung.
    Ich machte Kaffee, füllte ihn in eine Thermoskanne und trug sie ins Arbeitszimmer. Am Tisch startete ich meinen

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