Phantom
kooperieren, aber es ist zu spät, zu spät, zu spät. Sie sollten besser herkommen. Das ist alles so unrecht!« Ich fragte mich, wie Grueman wohl reagieren würde, wenn ich ihm sagte, daß ich diese Zeilen bereits gelesen hatte – auf einem scheinbar leeren Blatt Papier.
»Wissen Sie, was sie damit meinte? Wofür war es ›zu spät‹? Und was war ›unrecht‹?«
»Ich denke, das ›zu spät‹ sollte heißen, daß man nichts mehr gegen Ronnies Hinrichtung unternehmen konnte, da diese bereits stattgefunden hatte. Und ich nehme an, daß sie wußte, warum Ronnie hatte sterben müssen, und daß das ›unrecht‹ war. Er war übrigens eine Ausnahme: Für gewöhnlich entwickeln die Häftlinge, die ich vertrete, eine enge Beziehung zu mir: Ich bin ihr einziger Verbündeter in dem Kampf gegen ein System, das ihren Tod verlangt. Aber Ronnie war gegenüber seinem ersten Anwalt so unzugänglich, daß dieser das Mandat als aussichtslos niederlegte, und als ich den Fall übernahm, begegnete Ronnie mir ebenfalls mit extremer Zurückhaltung. Es war ungemein frustrierend. Immer wenn ich dachte, ich hätte ihn soweit und er fange an, mir zu vertrauen, war plötzlich wieder eine Mauer zwischen uns.«
»Machte er einen verängstigten Eindruck?«
»Mal wirkte er verängstigt, dann wieder bedrückt – und manchmal war er voller Wut.«
»Sprach Waddell von Jennifer Deighton als ›Jenny‹?«
Gruemans Pfeife war ausgegangen. Er riß ein Streichholz an.
»Ja.«
»Hat er Ihnen gegenüber jemals einen Roman mit dem Titel ›Paris Trout‹ erwähnt?«
Er sah mich überrascht an. »Das hat er tatsächlich. Im Laufe eines unserer ersten Gespräche unterhielten wir uns über Bücher und seine Gedichte. Er las gerne und empfahl mir, ›Paris Trout‹ zu lesen. Ich sagte zu ihm, ich kenne diesen Roman, und fragte, weshalb er ihn mir empfehle. Ich habe seine Antwort noch im Ohr: ›Weil dort beschrieben ist, wie alles läuft. Sie haben keine Möglichkeit, etwas zu ändern.‹ Ich interpretierte das so, daß er als schwarzer Südstaatler keine Chance gegen das System der Weißen habe und ich sein Schicksal durch keinen Antrag und kein Argument beeinflussen könne. Aber wie kommen Sie auf dieses Buch?«
»Es lag auf Jennifer Deightons Nachttisch, und es steckte ein Gedicht darin, von dem ich annehme, daß Waddell es für sie geschrieben hat. Es ist nicht wichtig. Ich war nur neugierig.«
»Wenn es nicht wichtig wäre, hätten Sie nicht danach gefragt. Sie denken, daß Ronnie ihr das Buch aus demselben Grund empfohlen hat wie mir, nicht wahr? Seiner Meinung nach war ›Paris Trout‹ gewissermaßen seine Geschichte. Und das bringt uns zu der Frage: Was hat Ronnie ihr anvertraut – welches Geheimnis nahm sie mit ins Grab?«
»Was glauben Sie, Mr. Grueman?«
»Ich glaube, daß eine Schweinerei vertuscht worden ist, über die Ronnie Bescheid wußte. Vielleicht ging es um etwas, das im Gefängnis passierte.«
»Aber warum hätte er schweigen sollen, wenn er den Tod vor sich hatte? Weshalb packte er da nicht aus?«
»Das begreife ich auch nicht. Aber Sie verstehen jetzt wohl, warum ich fürchtete, Ronnie sei vor seiner Hinrichtung in irgendeiner Weise mißhandelt worden. Und möglicherweise können Sie nach dem, was Sie von mir gehört haben, begreifen, weshalb ich so leidenschaftlich gegen die Todesstrafe eintrete, die ich schlicht als Mord betrachte.«
»Es gab keine Hinweise auf irgendeine Mißhandlung«, sagte ich. »Sie haben ja meinen Bericht bekommen.«
»Kommen Sie zur Sache.« Grueman klopfte die Asche aus seiner Pfeife. »Sie sind doch hier, weil Sie etwas von mir wollen. Hängt es mit den Schwierigkeiten zusammen, in denen Sie sich befinden? Dieser Faktor war übrigens neben dem Umstand, daß eine ehemalige Schülerin von mir der Fürsorge bedarf, wesentlich für meine Bereitschaft, Sie zu empfangen.«
»Ihre Anteilnahme überrascht mich«, sagte ich schroffer als beabsichtigt. »Ich hätte nie den Begriff Fürsorge mit Ihnen in Verbindung gebracht.«
»Dann ist Ihnen die wahre Bedeutung dieses Wortes nicht klar: Man sorgt dafür, daß jemand bekommt, was er braucht. Ich gab Ihnen damals, was Sie als Studentin brauchten, und ich gebe Ihnen heute, was Sie brauchen, auch wenn Ihre Bedürfnisse inzwischen völlig andere sind. Es wird Sie sicher überraschen, daß ich mich noch sehr lebhaft daran erinnere, wie Sie damals waren. Das hat aber einen ganz einfachen Grund: Sie waren einer meiner vielversprechendsten Schüler. Was
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