Phantom
die der faktischen Grundlage entbehrt, aber ich fasse sie als Kompliment auf. Ich möchte Ihnen übrigens mein Beileid zu Marks Tod aussprechen. Ich kannte ihn nicht sehr gut, aber er machte einen anständigen Eindruck.«
»Ich danke Ihnen.« Ich stand auf und zog meinen Mantel an, den ich über die Stuhllehne gelegt hatte. Auch Grueman stand auf.
»Was steht als nächstes auf dem Programm?« fragte er.
»Besitzen Sie Briefe oder andere Dinge von Waddell, auf denen seine Fingerabdrücke sein könnten?«
»Leider nein. Er hat mir nie geschrieben, und die Dokumente, die er unterzeichnet hat, sind durch viele Hände gegangen. Aber natürlich können Sie Ihr Glück gerne versuchen.«
»Ich komme gegebenenfalls darauf zurück. Noch eine letzte Frage.« Wir waren an der Tür angekommen. Grueman stützte sich schwer auf seinen Stock. »Sie erwähnten, daß Waddell bei Ihrem letzten Gespräch drei Bitten äußerte. Welches war die dritte?«
»Ich sollte Gouverneur Norring ersuchen, der Hinrichtung beizuwohnen.«
»Und haben Sie es getan?«
»Ich habe es versucht, aber Ihr feiner Gouverneur war nicht zu sprechen.«
10
Es war später Nachmittag, und die Skyline von Richmond tauchte vor mir auf, als ich Rose anrief.
»Wo sind Sie, Dr. Scarpetta?« Sie klang hektisch.
»Sitzen Sie in Ihrem Wagen?«
»Ja. Ich bin in etwa fünf Minuten da.«
»Nein, fahren Sie weiter!«
»Wie bitte?«
»Lieutenant Marino hat versucht, Sie zu erreichen. Er sagte, ich solle Ihnen ausrichten, Sie möchten ihn anrufen. Dringend!«
»Was ist denn los, um Himmels willen?«
»Haben Sie keine Nachrichten gehört? Haben Sie es nicht in der Zeitung gelesen?«
»Ich komme gerade aus D. C. Was gibt es denn so Aufregendes?«
»Frank Donahue wurde vor ein paar Stunden tot aufgefunden.«
»Frank Donahue – der Gefängnisdirektor?«
»So ist es.«
Meine Hände schlossen sich fest um das Lenkrad. »Was ist passiert?«
»Jemand hat ihn erschossen. Er saß in seinem Wagen – wie Susan.«
»Ich komme.« Ich scherte nach links aus, um zu überholen. »Davon würde ich Ihnen abraten. Fielding hat ihn schon auf dem Tisch. Bitte, rufen Sie Marino an! Und lesen Sie die Zeitung! Sie wissen über die Kugeln Bescheid.«
»Sie?«
»Die Medien. Sie wissen, daß bei Eddie Heath und Susan die gleichen Kugeln gefunden wurden.«
Ich rief Marino an und sagte ihm, daß ich auf dem Heimweg sei. Zu Hause angekommen, fuhr ich den Wagen in die Ga rage, hastete zum Briefkasten und holte die Spätausgabe heraus. Frank Donahue lächelte mir von der ersten Seite entgegen. DIREKTOR DES STAATSGEFÄNGNISSES ERMORDET lautete die Schlagzeile. Unter dem Bericht stand ein Artikel, der ebenfalls mit dem Foto eines Staatsangestellten illustriert war: mit meinem. Der Aufhänger der Geschichte waren die beiden Zweiundzwanziger-Kugeln und ein paar neue Informationen über mich, die wiederum daraufhindeuten sollten, daß ich mit Susans Ermordung zu tun hatte – und nun auch noch mit der von Eddie Heath. Ich hätte »verdächtiges Interesse« am Fall Heath bekundet, indem ich im Doctor’s Hospital in Henrico erschien, um vor Eddies Tod seine Wunden in Augenschein zu nehmen. Als ich ihn später obduzierte, habe Susan sich geweigert, als Zeugin der Autopsie aufgeführt zu werden, und fluchtartig das Leichenschauhaus verlassen. Als sie ermordet aufgefunden wurde, sei ich unangemeldet bei ihren Eltern erschienen, um sie auszufragen, und hätte darauf bestanden, bei der Autopsie anwesend zu sein. Ich hätte mir in letzter Zeit beruflich einiges zuschulden kommen lassen: So hätte ich es beispielsweise versäumt, Ronnie Waddells Fingerabdrücke abzunehmen, als er nach seiner Hinrichtung eingeliefert wurde, und kürzlich habe die Bahre mit einem Mordopfer mitten auf dem Korridor gestanden, gleich neben einem vielbenutzten Aufzug, wodurch ich die Beweiskette ernstlich gefährdet hätte. Ich wurde als verschlossen und arrogant beschrieben, und der Reporter äußerte die Vermutung, daß Susan Story, die täglich mit mir zusammengearbeitet hatte, etwas gewußt habe, das mich beruflich ruinieren könne, weshalb ich ihr Schweigegeld zahlte. Dieser Verdacht werde dadurch erhärtet, daß meine Fingerabdrücke auf einem Kuvert in Susan Storys Haus gefunden worden seien, und daß dieses Kuvert Geld enthalten habe.
»Meine Fingerabdrücke?« fragte ich Marino statt einer Begrüßung, als ich ihm die Tür öffnete. »Was ist denn das für eine Geschichte?«
»Nur die Ruhe, Doc!«
»Ich
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