Phantom
Sie nicht brauchten, war Applaus. Die Gefahr lag bei Ihnen nicht darin, daß Sie Ihr Selbstvertrauen, sondern daß Sie sich selbst verlieren würden. Glauben Sie, ich kannte den Grund nicht, wenn Sie erschöpft und geistesabwesend in meinen Vorlesungen saßen? Denken Sie, ich war mir nicht über die Tiefe Ihrer Gefühle für Mark James im klaren – der übrigens mit Ihnen verglichen eher Mittelmaß war? Wenn ich rüde mit Ihnen umging, dann nur, weil ich Ihre Aufmerksamkeit wecken wollte. Sie sollten Ihr Studium lieben und nicht nur diesen Jungen. Ich fürchtete, Sie würden auf eine großartige Karriere verzichten, weil Ihre Hormone und Emotionen übersprudelten. Eines Tages wären Sie aufgewacht und hätten diese Entscheidung bitter bereut. Ich wollte mit allen Mitteln verhindern, daß Sie Ihre Begabung verkümmern ließen und Ihre Energie vergeudeten.«
Ich starrte ihn fassungslos an. Mein Gesicht brannte.
»Ich habe meine Beleidigungen und Angriffe niemals ernst gemeint«, fuhr er fort »Das war alles nur Taktik. Wir Anwälte sind berühmt – und berüchtigt – für unsere Taktiken. Sie sind unsere Zaubertricks, mit deren Hilfe wir unser Ziel erreichen. Es war seit jeher mein Anliegen, meine Studenten auf die harte Realität des Berufs vorzubereiten und ihnen die Bedeutung von Werten wie Wahrheit, Anstand und Fairness nahezubringen. Und ich bin in keiner Weise enttäuscht von Ihnen: Sie sind einer meiner brillantesten Starschüler.«
»Warum sagen Sie mir das alles?« fragte ich leise.
»Weil nun der richtige Zeitpunkt dafür ist: Sie haben Probleme – jetzt brauchen Sie meine Unterstützung.«
Ich schwieg. In meinem Kopf jagten sich die Gedanken.
»Wenn Sie es erlauben, werde ich versuchen, Ihnen zu helfen.«
Ich hatte keine Wahl: Sein Verhalten zwang mich, meine Karten aufzudecken.
Er nahm mein Schweigen als Zustimmung: »Falls Sie weiterhin öffentlich diskriminiert werden, müssen wir uns eine Strategie zurechtle…«
Ich unterbrach ihn: »Mr. Grueman, wann haben Sie Waddell das letzte Mal gesehen?«
Er lehnte sich zurück und schaute nachdenklich an die Decke. »Gesehen? Das liegt mindestens ein Jahr zurück. Unsere Gespräche fanden meistens telefonisch statt.«
»Dann haben Sie ihn also nicht gesehen, als er angeblich im Spring-Street-Gefängnis auf seine Hinrichtung wartete.«
»Angeblich?« Er sah mich verdutzt an.
»Wir können nicht beweisen, daß es Waddell war, der am 13. Dezember hingerichtet wurde.«
»Sie scherzen!«
»Ich berichtete ihm alles, was ich wußte, auch, daß Jennifer Deighton ermordet und ein Fingerabdruck, der als Waddells identifiziert wurde, an einem ihrer Eßzimmerstühle gefunden worden war. Ich erzählte ihm von Eddie Heath und Susan Story und dem Verdacht daß die AFIS-Unterlagen manipuliert worden waren.«
»Großer Gott!« stieß er hervor.
»Die Polizei fand bei der Durchsuchung des Deighton-Hauses weder Ihren Brief noch das Original-Fax an Sie. Vielleicht hat der Mörder beides mitgenommen, vielleicht hat sie beides aus Angst auch selbst vernichtet. Ich glaube, Sie haben recht mit der Vermutung, daß sie Bescheid wußte – und dieses Wissen kostete sie das Leben.«
»Gilt das Ihrer Meinung nach auch für Susan Story?«
Ich nickte. »Es bietet sich jedenfalls an. Bis jetzt sind zwei Menschen, die mit Waddell zu tun hatten, ermordet worden. Wenn man davon ausgeht, daß das Motiv damit zusammenhängt, dann…« Mein Blick glitt zu der offene Bürotür: Es wäre ein Kinderspiel, Grueman hier oder wenn er zu seinem Wagen humpelte, zu überfallen.
»… dann muß man sich wundern, daß ich noch lebe«, beendete er meinen Satz mit einem freudlosen Lächeln. »Ich danke Ihnen für die Warnung, Dr. Scarpetta, aber ich wüßte nicht, wie ich einen Mörder davon abhalten könnte, seine n Plan auszuführen.«
»Sie könnten es zumindest versuchen«, sagte ich. »Sie könnten Vorsichtsmaßnahmen treffen.«
»Das werde ich tun.«
»Vielleicht sollten Sie mit Ihrer Frau in Urlaub fahren, für eine Weile aus der Stadt verschwinden.«
»Beverly ist seit drei Jahren tot.«
»Das tut mir sehr leid.«
»Es war ihr schon lange nicht mehr gut gegangen, genaugenommen die meiste Zeit unserer Ehe. Seit es niemanden mehr gibt, der auf mich angewiesen ist, kann ich meine Neigungen ungehindert ausleben: Ich bin ein unheilbarer Workaholic und ein notorischer Weltverbesserer.«
»Ihnen würde ich zutrauen, die Welt tatsächlich besser zu machen.«
»Das ist eine Meinung,
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