Phantom
daß Sie an mich denken, während Sie durch diese Stadt fahren.«
»Ich rufe Sie nicht an, um Ihnen zu schmeicheln, Mr. Grueman. Ich dachte, wir könnten uns über Ronnie Waddell unterhalten.«
»Aha. Wie weit sind Sie vom Law Center entfernt?«
»Ein paar Minuten.«
»Ich habe noch nicht zu Mittag gegessen. Sie?«
»Nein.«
»Was meinen Sie dazu, daß ich uns ein paar Sandwiches kommen lasse?«
»Ist mir recht«, antwortete ich.
Das Law Center lag fünfunddreißig Blocks vom Hauptcampus der Universität entfernt. Ich erinnerte mich daran, wie verärgert ich Vorjahren gewesen war, als ich feststellte, daß meine Ausbildung nicht das Privileg mit sich brachte, die alten, baumbeschatteten Wege von Washington Heights entlangzuwandern und meine Vorlesungen in schönen alten Backsteinhäusern aus dem achtzehnten Jahrhundert zu hören. Statt dessen mußte ich drei Jahre in einem hochmo dernen Gebäude ohne jeden Charme in einem lauten und hektischen Viertel von D. C. verbringen. Doch meine Enttäuschung hielt damals nicht lange an, denn es hatte auch seinen Reiz, im Schatten des Capitols Jura zu studieren – und außerdem lernte ich bereits im ersten Semester Mark James kennen. Von meiner ersten Begegnung mit ihm erinnere ich mich am deutlichsten an seine physische Wirkung auf mich. Zunächst wurde ich bei seinem Anblick von einer unerklärlichen Unruhe erfaßt, und als wir uns näherkamen, schoß in seiner Gegenwart Adrenalin durch meine Adern, mein Herz galoppierte, und das Blut rauschte in meinen Ohren. Dennoch dauerte es Wochen, in denen wir nächtelang redeten, bis wir endlich auch ohne Worte zueinander fanden.
Seit jenen Tagen war das Law Center gewachsen und umgebaut worden. Die Criminal Justice Clinic befand sich im dritten Stock. Der Flur lag verlassen da, aus den Büros war kein Laut zu hören: Es war immer noch Ferienzeit. Der Eingang von Zimmer vierhundertachtzehn stand offen. Das Sekretariat war unbesetzt, die Tür zum dahinterliegenden Büro nur angelehnt.
Um Grueman nicht durch unangemeldetes Eintreten zu erschrecken, rief ich seinen Namen. Keine Antwort. »Mr. Grueman – sind Sie da?« Wieder nichts. Ich drückte langsam die Tür zurück.
Die Schreibtischplatte war unter Akten verschwunden, und neben dem Computer türmten sich Unterlagen. Auf dem Boden vor den Bücherregalen stapelten sich Ordner. Links vom Schreibtisch standen auf einem Tisch ein Drucker und ein Faxgerät, das gerade eine Nachricht an jemanden durchtikkerte. Das Telefon klingelte dreimal und hörte dann auf.
»Entschuldigen Sie!« Die unverhoffte Stimme hinter mir hob mich fast aus den Schuhen. »Ich war nur kurz draußen und dachte, ich wäre zurück, bevor Sie kommen.« Auf einen Stock mit Silberknauf gestützt, ging Nicholas Grueman langsam zu seinem Schreibtisch. »Ich würde Ihnen ja gern Kaffee anbieten, aber wenn Evelyn nicht da ist, gibt es keinen.« Vorsichtig ließ er sich in seinem Sessel nieder. »Sie werden allerdings nicht verdursten: Ich habe uns auch etwas zu trinken bestellt. Bitte setzen Sie sich doch, Dr. Scarpetta! Es macht mich nervös, wenn eine Frau auf mich herunterschaut.«
Ich zog mir einen Stuhl heran und erkannte mit Erstaunen, daß Nicholas Grueman durchaus nicht das Ungeheuer war, als das ich ihn in meiner Studentenzeit gesehen hatte. Er wirkte zerbrechlich, sein volles Haar war schlohweiß geworden und das Gesicht von tiefen Falten durchzogen. Er trug immer noch Fliege und Weste zum Anzug, rauchte nach wie vor Pfeife, und als er mich ansah, war sein Blick scharf wie ein Skalpell, doch empfand ich ihn nicht als kalt, nur als durchdringend. So mußte meiner wohl meistens auch wirken.
»Warum hinken Sie?« fragte ich.
»Gicht – die Krankheit der Despoten«, sagte er, ohne zu lächeln. »Von Zeit zu Zeit überfällt sie mich. Aber bitte, ersparen Sie mir Diätvorschläge oder Medikamentenempfehlungen!«
»Mr. Grueman, ich bin nicht gekommen, um Ihnen Ratschläge zu erteilen, und auch nicht, um mich wieder einmal von Ihnen niedermachen zu lassen. Sie waren der arroganteste und sexistischste Lehrer, mit dem ich es je zu tun hatte. Und doch muß ich mich bei Ihnen bedanken: Sie haben mich gelehrt, mich meiner Haut zu wehren, denn ich wollte nie mehr so hilflos sein wie damals Ihnen gegenüber.«
»Ich weiß nicht, ob Sie Ihre Lektion auch wirklich gelernt haben.«
»Ihre diesbezügliche Meinung interessiert mich nicht. Ich bin hier, um mehr über Ronnie Joe Waddell zu erfahren.«
»Ronnie ist
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