Phantom
Unrecht geschehen. Sie erleben ja im Augenblick am eigenen Leib, wie es ist, das Opfer einer Kampagne zu werden. Ich weiß, daß es sich dabei um eine Diffamierung handelt, weil ich Sie kenne, aber die Öffentlichkeit orientiert sich an dem, was ihr die Medien servieren. Was würden Sie sagen, wenn die Leute, die an Ihrem Untergang arbeiten, die Macht hätten, zu entscheiden, ob Sie weiterleben oder sterben? Ronnie wurde eine Rechtsprechung zum Verhängnis, die manipulierbar ist; er hatte von vornherein keine Chance. Kein Präzedenzfall, den ich anführte, wurde akzeptiert, keinem Antrag auf Revision entsprochen. In Ihrem geliebten Virginia hilft ein Vorführungsbefehl nebst Anordnung der Haftprüfung nicht, sicherzustellen, daß Staatsgericht und Appellationsrichter gemäß der geltenden Verfassungsgrundsätze vorgehen. Die in der Verfassung verankerten Vorschriften wurden in diesem Fall auf skandalöse Weise mißachtet. Während der drei Jahre, die ich für Ronnie kämpfte, hätte ich genausogut die Hände in den Schoß legen können.«
»Welche verfassungsmäßigen Vorschriften wurden denn mißachtet?«
»Allen voran das Recht des Angeklagten auf eine Jury, die einen Querschnitt durch die Bevölkerung repräsentiert. Ich nehme an, Sie haben die Verhandlung nicht verfolgt, da sie zehn Jahre zurückliegt und Sie damals noch nicht in Richmond waren. Obwohl die Öffentlichkeit darauf drängte, wurde die Verfahrensweise nicht geändert. Die Jury setzte sich aus acht Frauen und vier Männern zusammen, sechs der Frauen und zwei der Männer waren Weiße. Die vier schwarzen Geschworenen waren ein Autoverkäufer, ein Bankkassierer, eine Krankenschwester und eine Lehrerin. Die Berufe der Weißen reichten vom Weichensteller, der Schwarze als ›Nigger‹ bezeichnete, bis zur Oberschichthausfrau, deren Kontakte zu Schwarzen sich darin erschöpften, daß sie es in den Fernsehnachrichten mitbekam, wenn wieder einmal einer einen anderen im Asozialenviertel erschossen hatte. Die Auswahl der Geschworenen machte eine gerechte Verurteilung Ronnies unmöglich.«
»Aber wer kann ein Interesse daran gehabt haben, daß Waddell hingerichtet wurde?«
Grueman blickte zur Tür. »Wenn meine Ohren mich nicht täuschen, dann kommt unser Essen.«
Ich hörte Schritte und Papierknistern, dann rief eine fröhliche Stimme: »Hallo, Mr. Nick, sind Sie da?«
»Kommen Sie rein, Joe!« antwortete Grueman.
Ein schlaksiger junger Schwarzer in Jeans und Tennisschuhen erschien, und Grueman machte auf dem Schreibtisch Platz für die beiden Tüten. »Da sind die Drinks drin – und in der anderen haben wir, wie bestellt, zwei Matrosen-Sandwiches, Kartoffelsalat und Gewürzgurken. Macht fünfzehnvierzig.«
»Behalten Sie das Wechselgeld, Joe. Natürlich bin ich froh, daß Sie die Sachen bringen, aber haben Sie eigentlich nie frei?«
»Die Leute hören einfach nicht auf zu essen, Mann. Ich muß los.«
Grueman verteilte das Essen und die Servietten, während ich versuchte, mir über ihn klarzuwerden. Ich konnte in seinem Benehmen und seinen Worten nichts Verlogenes oder Heuchlerisches entdecken.
»Wer«, fragte ich noch einmal, während ich mein Sandwich auswickelte, »kann ein Interesse daran gehabt haben?«
Er öffnete eine Flasche Ginger Ale und entfernte den Deckel von seinem Kartoffelsalatschälchen. »Vor ein paar Wochen dachte ich, ich bekäme vielleicht eine Antwort auf diese Frage«, erwiderte er. »Doch dann wurde die Person, von der ich sie mir erhoffte, tot in ihrer Garage gefunden. Ich bin sicher, Sie wissen, von wem ich spreche, Dr. Scarpetta. Es ist zwar nicht ausdrücklich gesagt worden, daß sie sich selbst umgebracht hat, aber die Berichterstattung ging in diese Richtung. Mich macht der Zeitpunkt ihres Todes stutzig.«
»Sie kannten Jennifer Deighton?« fragte ich so leichthin wie möglich.
»Ja und nein. Ich habe sie nie persönlich kennengelernt, und das Telefonat, das wir führten, war sehr kurz. Ich setzte mich erst nach Ronnies Tod mit ihr in Verbindung.«
»Ist das so zu verstehen, daß Jennifer Deighton Waddell kannte?« Ich hoffte, er würde meine Erregung nicht bemerken.
Grueman biß von seinem Sandwich ab, kaute bedächtig und griff dann nach seinem Ginger Ale. Er nickte. »Ja. Wie Sie sicherlich wissen, betrieb Jennifer Deighton einen Horoskopservice und beschäftigte sich mit Parapsychologie und ähnlichen Dingen. Nun, vor acht Jahren stieß Ronnie in einer Zeitschrift auf eine ihrer Annoncen. Er hoffte, sie könne
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