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Philby: Porträt des Spions als junger Mann (German Edition)

Philby: Porträt des Spions als junger Mann (German Edition)

Titel: Philby: Porträt des Spions als junger Mann (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Littell
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erwähnen, dass Stromausfälle in Wien eher die Regel als die Ausnahme waren, und so hatten wir Kerzen griffbereit. Ich zündete gleich mehrere an. Als das Telefon klingelte, sagte Kim: »Ich geh ran«, hob den Hörer ans Ohr und lauschte. »Woher weißt du das?«, fragte er.
    »Woher weiß
wer was?
«, fragte ich ungeduldig.
    »Es ist Dietrich«, sagte Kim zu mir. »Er sagt, der Strom im Karl-Marx-Hof ist ausgefallen und Dollfuß’ Heimwehr sperrt die Zugänge zu den Arbeitervierteln mit Stacheldraht ab.«
    »Die Revolution«, flüsterte ich atemlos. »Die Arbeiter erheben sich und fegen die Kapitalisten und Faschisten beiseite. Wien wird die zweite Pariser Kommune. Ich spüre den Atem der Geschichte.«
    Kim war nüchterner: »Die Pariser Kommune wurde nach sechs Wochen zerschlagen. Wenn das jetzt tatsächlich die Revolution ist, werden die Wiener Arbeiter keine sechs Tage aushalten. Der Heimwehr-Mob ist bis an die Zähne bewaffnet und wird unsere Schutzbundgenossen in die Häuserblocks zurückdrängen. Und auch die werden die Genossen nicht lange halten können.«
    Ich rief die Nummer an, die ich auf Geheiß meines Führungsoffiziers auswendig gelernt hatte. Eine Frau antwortete und sagte: »Wenn Sie wegen Rosen anrufen, im Winter liefern wir keine aus.« Darauf sagte ich: »Aber wir haben schon den zwölften Februar, der Winter ist fast vorbei.« Nachdem wir unsere Parolen ausgetauscht hatten, sagte mein Führungsoffizier: »Berichten Sie«, und ich erzählte ihr vom Stromausfall und dem Stacheldraht.
    »Ist das alles?«
    »Reicht das nicht?«, fragte ich.
    Die Verbindung wurde unterbrochen.
    »Was war das denn?«, wollte Kim wissen.
    »Ich erstatte Bericht«, erklärte ich.
    »Wem?«
    »Einer Frau mit einem Männernamen, die im Winter keine Rosen ausliefert.«
    Kim hatte die gute Idee, Eric Gedye anzurufen, den Österreichkorrespondenten des
Daily Telegraph.
Gedye war Stammgast im Café Herrenhof, wo wir ihn kennengelernt hatten. »In der Stadt scheint der Strom ausgefallen zu sein«, sagte er zu Gedye. »Haben Sie eine Ahnung, was da los ist?«
    Ich konnte sehen, wie Kim die Augen schloss, während er den Hörer ans Ohr drückte. »Dann geht es a-a-also los«, murmelte er und hörte einen Moment lang zu. »Ich weiß auch nicht, was wir machen werden. Ich nehme an, wir warten auf Instruktionen.«
    Er sah mich an, als er aufgelegt hatte. »Die Dollfuß-Leute verbreiten, der Schutzbund hätte mit einem bewaffneten Aufstand begonnen. Gedye meint, es ist eine P-P-Provokation und dass Dollfuß reagieren wird wie Hitler nach dem Reichstagsbrand, um sich die Sozialisten und die Kommunisten vom Hals zu schaffen. Dein kleiner Graf hat bereits die Sozialdemokraten verboten und das Kriegsrecht ausgerufen. In Linz haben sie die Parteizentrale der Sozialdemokraten besetzt und beschießen die Wohnblöcke der Stadt. Daraufhin sind die Kraftwerksarbeiter hier in Wien in Streik getreten, und die Armee schafft Haubitzen herbei, um die Wohnblöcke anzugreifen.«
    Wieder klingelte das Telefon. Bildete ich es mir nur ein, oder war das Klingeln schriller geworden? Und kam es nicht in kürzeren Abständen? Diesmal war ich schneller am Hörer. Es war Dietrich. Er schrie, damit ich ihn trotz des Tumults im Hintergrund verstand. »Wir brechen sofort auf«, schrie ich zurück und erschrak vor meiner eigenen durch die Wohnung schallenden Stimme.
    »Warum schreist du so?«, fragte Kim, als ich aufgelegt hatte.
    »Weil Dietrich geschrien hat«, sagte ich. Ich weiß noch, dass ich das in meiner Aufregung für eine absolut vernünftige Erklärung hielt. »Er sagt, wir sollen ihn im Herrenhof treffen und dort auf Befehle warten.«
    Wir zogen unsere Galoschen und Mäntel an und eilten nach unten. Ich wollte mit Kims Motorrad fahren, aber er meinte, damit zögen wir zu viel Aufmerksamkeit auf uns, und so gingen wir zu Fuß durch den fallenden Schnee. Die Flocken auf meinen Wangen schmolzen, die weiße Decke auf dem Pflaster dämpfte unsere Schritte, und ich konnte mir nur schwer vorstellen, dass sich Wien am Rande eines Bürgerkrieges befand. Das Café Herrenhof war voller Gäste, die sich im Licht von Kerzen auf Bänken und Stühlen zusammendrängten und Zeitung lasen oder sich über den allgemeinen Tumult hinweg schreiend mit ihren Tischnachbarn unterhielten. (Ich hatte immer gedacht, die Leute würden bei einem Bürgeraufstand flüstern. Als ich Kim das sagte, brach er in Lachen aus, zum letzten Mal für mehrere Wochen. Das Lachen, so schien

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