Philby: Porträt des Spions als junger Mann (German Edition)
beleuchteten jeweils die Ladung des voranfahrenden. Einige der Lastwagen zogen Haubitzen, deren Rohre mit Stoff abgedeckt waren. Ich muss zugeben, dass mich der Anblick der Artilleriegeschütze ziemlich erschreckte. Was Kim anging, so habe ich nie auch nur den kleinsten Anflug von Angst in seinem Gesicht oder seiner Stimme entdecken können. Hinter seinem jungenhaften Grinsen verbargen sich Nerven aus Stahl. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er die vorbeifahrenden Lastwagen ganz sachlich zählte und nickte, wie um sicherzugehen, dass er die Information richtig abgelegt und ihre Bedeutung verstanden hatte. Der quälend schüchterne Homo erectus, der vor nicht allzu langer Zeit vor meiner Tür angeschwemmt worden war, existierte nicht mehr.
Was hundert Tage alles vermögen!
Selbst nachdem Kim mich in London in Sicherheit gebracht hatte, verfolgten mich die flackernden Bilder jener Tage, in denen Dollfuß den Sozialismus in Österreich ausmerzte. (Kim behauptet, die Bilder seien »Fragmente wider mein Scheitern«. Was für ein schöner Ausdruck. Er sagt, er habe ihn von einem Dichter geklaut. Ich habe seinen Namen vergessen.
Fragmente. Scheitern.
Warum nicht?) Ich sehe im Hyde Park einen Kinderwagen und habe sofort Sanitäter in verschmutzten weißen Laborkitteln vor Augen, die Verwundete in Kinderwagen in provisorische Krankenstationen bringen. Ein Schlagloch am Piccadilly Circus erinnert mich an die Pockennarben ähnelnden Krater, die sich rund um den Karl-Marx-Hof auftaten, nachdem die Heimwehr mit ihren Haubitzen das Feuer eröffnet hatte. In Maida Vale fällt mein Blick auf einen weggeworfenen Schuh in einem Mülleimer am Straßenrand, und unversehens steigt das Bild eines ganzen Haufens Schuhe vor mir auf. In einer Gasse hinter dem Karl-Marx-Hof lagen sie, und – großer Gott im Himmel! – in einigen von ihnen steckten noch menschliche Glieder. Ich sehe spanische Touristen, die jeweils zu zweit Richtung Harrods gehen, und mir tritt eine endlose Zweierreihe Gefangener mit hinter den Kopf gelegten Händen vor Augen, die durch die mit Trümmern übersäten Straßen in Lager geführt werden, die den Konzentrationslagern im Burenkrieg gleichen.
Oh, meine Augen haben Schreckliches gesehen, das zu vergessen mein Hirn alles zu geben bereit wäre.
Wirklich alles.
Manchmal verschwimmen die Bilder zu einer einzigen trüben Erinnerung.
Es war der Abend des zwölften Februar: Nachdem die Anführer verhaftet und die revolutionären Truppen orientierungslos waren, irrten unsere sozialistischen und kommunistischen Freunde durch die Straßen, unsicher, wo sie Stellung beziehen und wie sie sich widersetzen sollten. Die bewaffneten Einheiten des Schutzbundes zogen sich in die Wohnblöcke zurück, um die Barrikaden zu verteidigen. Es muss fast Mitternacht gewesen sein, als Kim, Dietrich und ich das Epizentrum erreichten. Ich erinnere mich, wie wir über Barrikaden kletterten, die aus Autos, Lieferwagen, Handwagen, Haufen alter Autoreifen und wahren Möbelbergen bestanden. Dahinter lagen die festungsgleichen Wohnblöcke des Karl-Marx-Hofes. Dietrich entdeckte Sonja hinter einer weiteren Barrikade, wo sie und andere Frauen Laken zu Verbandsstreifen zerrissen, falteten und in Kartons verstauten. Etwa hundert junge Kommunisten mit roten Binden um den Arm verteidigten die Barrikaden. Eine Handvoll von ihnen hatte Gewehre, andere führten Knüppel und Keulen aus Tischbeinen mit. Ein junger Mann in einem Wintermantel mit Pelzkragen hatte sich mit einem Teppichkehrer bewaffnet. Etliche Kommunisten lagerten auf Sofas, die aus den Wohnungen heruntergeschleppt worden waren und einen Teil der Verteidigungsanlagen bildeten, die die Straßen blockierten. Ein junger Mann mit einem leuchtend rot gefärbten Spitzbart stieg auf einen Küchentisch. Er hatte ein Stück Pappe zu einer Flüstertüte gerollt und hielt eine feurige Rede. Nur ein Teil seiner Worte erreichte meine Ohren. Offenbar ging es darum, dass die ersten Schüsse des nächsten großen Krieges in Wien abgefeuert worden seien. Die Kommunisten auf der Barrikade jubelten ihm zu. O ja, und eine absolut unvergessliche Erinnerung: Sergius, wie er auf einem senkrecht in der Barrikade steckenden Klavier die Internationale spielt. Einige der Kommunisten begannen mitzusingen. Zuschauer an den Fenstern der Wohnblocks stimmten mit ein. Bald schon war die ganze Straße in die glorreichen Worte der Internationale gehüllt. Zu meinem Erstaunen, oder besser: zu meinem Entzücken – noch heute
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