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Philby: Porträt des Spions als junger Mann (German Edition)

Philby: Porträt des Spions als junger Mann (German Edition)

Titel: Philby: Porträt des Spions als junger Mann (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Littell
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treten mir bei dem Gedanken daran Tränen in die Augen –, sangen sie alle auf Russisch.
    Wstawai, prokljatjem sakleimjonyj,
    Wes mir golodnych i rabow!
    Kipit nasch rasum vosmuschschonnyj
    I v smertnyj boj vesti gotow.
    Mein Engländer und ich, wir wärmten uns an einem Haufen brennender Möbel mitten auf der Straße. Ich weiß nicht mehr, wann der Angriff begann, nur dass es noch zu dunkel war, um die Zeiger der kleinen Armbanduhr erkennen zu können, die mir mein Großvater zum fünfzehnten Geburtstag geschenkt hatte. Wir hörten ein fernes Tosen, das so klang, als sprängen jenseits der Barrikaden zahllose Motoren an. Das nächste Fragment, das ich mir womöglich nur eingebildet und so oft in meiner Fantasie durchgespielt habe, dass es ein Teil meiner Wirklichkeit wurde … Jedenfalls hört Dietrich in meiner Erinnerung die Motoren näher kommen und hält Kim einen Revolver hin. Kim sieht das Ding an, als wäre er sich nicht sicher, was er da vor sich hat, und sagt: »Ich könnte keine Kugel auf einen anderen Menschen abfeuern.« »Selbst dann nicht, wenn dieser andere Mensch auf dich schießt?«, fragt Dietrich. Kim schüttelt bedächtig den Kopf, und ich höre ihn sagen: »Es muss einen anderen Weg geben, für die gute Sache zu kämpfen.« Dietrich sagt: »Finde ihn.« Kim nickt. »Das werde ich.«
    Nein, ich habe Kim nie darauf angesprochen. Vielleicht aus Angst, Kim könnte mir sagen, ich hätte es mir nur eingebildet. Ich war in meinen Engländer verliebt und wollte, dass dieses ganz spezielle Fragment, dieser Beweis seiner Menschlichkeit, keine Einbildung war.
    Ich höre noch immer die Schreie, die aus den Fenstern drangen, als die riesigen Räumfahrzeuge die erste Barrikade erreichten und eine Bresche schlugen. Einige junge Kommunisten schossen zischende Feuerwerkskörper ab, die in funkelnden Wolken auf den Führerhäusern der Räumfahrzeuge explodierten. Wir hörten Schüsse von den stählernen Armierungen abprallen. Kim ergriff meine Hand und zog mich in einen Hauseingang. Ich erinnere mich an ein schmales hohes Treppenhaus, in dem es nach Müll, Urin und Petroleum roch. Dann schlug mir ein Schwall kalter Luft ins Gesicht. Ich stand auf dem Dach und sah über die Brüstung. Tief unten, wie im Abfluss eines Waschbeckens, sah ich Autos, die in die Luft gehoben und wie große Spielzeuge zur Seite geworfen wurden. Dicker schwarzer Rauch stieg von Autoreifen auf, die mit Benzin übergossen und angesteckt worden waren. Panzer stießen durch die von den Räumfahrzeugen gerissenen Lücken, ihre Ketten zermalmten Möbel, und die Maschinengewehre in ihren Türmen spuckten Funken in alle Richtungen. Eine Gestalt mit einer Dose Benzin in der Hand rannte auf einen Panzer zu. Aus der Öffnung der Dose ragte ein brennender Docht. Als die Gestalt den Arm hob, um die Dose zu werfen, wurde sie von einer Kugelgarbe niedergemäht. Wie aus dem Nichts erschien daraufhin eine zweite Gestalt und packte die Dose, doch sie explodierte ihr in den Händen, bevor die Gestalt sie wegwerfen konnte. Für einen Moment wurde es auf der Straße taghell. Ich glaubte, den Genossen erkennen zu können, bevor er von den Flammen verschluckt wurde. Es war mein ehemaliger Geliebter, es war Dietrich, der Dietrich, der vom Tisch aufgesprungen war, um dem ungarischen Professor zu sagen, dass ihn dessen marxistische Theorien zu Tode langweilten. Und ein verrückter Gedanke schoss mir durch den Kopf: »Wenigstens ist er nicht an Langeweile gestorben.«
    Als die Panzer durch die zweite Barrikade brachen und das Klavier und die Möbel zur Seite schoben, begannen die Kommunisten, die mit uns auf dem Dach standen, Ziegel auf die geduckten Schatten zu werfen, die den Panzern folgten. Die Genossen auf der Straße kämpften heldenhaft, und einen kurzen Moment lang hatte es den Anschein, als zögerten die Angreifer, aber vielleicht war das auch nur ein Wunschbild, das sich über die Wirklichkeit legte. Soldaten mit Helmen und dicken Mänteln drängten durch die Breschen in den Barrikaden und schossen auf alles, was sich in den Hauseingängen und hinter den Fenstern bewegte. Sie schlugen die Zugänge zu den Wohnblöcken mit ihren Gewehrkolben ein und machten sich an eine systematische Durchsuchung der Wohnungen. Einer der Genossen auf dem Dach brach in Schluchzen aus. Ein anderer packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn. »Wir müssen uns in Sicherheit bringen!«, rief er.
    Kim drückte mir seine Lippen ans Ohr: »Das müssen wir auch, wir müssen

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