Phillips Bilder (German Edition)
Wenn ich hinter Seth stände, könnte ich den Kopf bequem auf seine Schulter legen. Müsste mich vielleicht etwas vorbeugen, denn er ist kleiner als ich. Seine Haare wären weich an meiner Wange.
David lacht verhalten auf und sieht aus dem Augenwinkel zu mir. Ich greife nach einem Teller. Benjamin drückt David einen Kuss in den Nacken, dann löst er sich von ihm.
Er schaut mich an. „Seth ist ... Ich weiß nicht“, er greift zu einem Geschirrtuch, sieht aus dem Fenster, „er macht ziemlich sein eigenes Ding.“
Ich nicke nur. Soll das jetzt eine Info sein? Dann kann ich darauf verzichten. Ich werfe das Geschirrtuch auf den Tisch, obwohl noch nicht alles abgetrocknet ist.
„Ich geh mal fotografieren“, sage ich und trete in den Flur. Zum Fotografieren habe ich überhaupt keine Lust, aber ich muss raus. Und vielleicht sehe ich ja Seth irgendwo. Ich hole meine Kamera aus dem Rucksack und verlasse das Haus.
Auf der Dorfstraße bin ich allein, ziellos laufe ich herum. Es ist bald Mittag, die Sonne brennt mir in den Nacken. Ich wundere mich, dass niemand zu sehen ist, niemand frühstückt im Garten, redet über den Zaun mit Nachbarn oder geht spazieren. Auch keine Rasenmäher heute, man hört nur Vögel, eine Brise in den Bäumen, weit weg ein Auto.
In einem Vorgarten steht eine ältere Frau, die mich fast feindselig ansieht. Ich grüße übertrieben laut, das kenne ich auch aus unserer Stadtrandsiedlung Zuhause. Grüßt man nicht, gilt man als Beispiel für die Verdorbenheit und Unhöflichkeit der heutigen Jugend. Die Frau grüßt nicht zurück und wendet sich zum Haus.
Aus einem offenen Fenster dringt das Klappern von Töpfen und Bratenduft. In Berlin sitzen die Leute jetzt in Straßencafés und brunchen. Haben diesen einen Tag in der Woche alle Zeit der Welt. Das Mittagessen fällt aus oder kommt viel später, ist halb zwölf noch keinen Gedanken wert. Es ist ruhiger als an Wochentagen, trotzdem rauscht Verkehr, dringt Musik aus Fenstern und Cafés, reden und lachen Menschen. Die Stille hier auf dem Dorf hat etwas Lethargisches und wäre das Wetter nicht so schön, hätte die Stimmung auch etwas Bedrückendes.
Halbherzig schaue ich mich nach einem Fotomotiv um, aber die Sonne steht hoch am Himmel, wirft harte Schatten und erzeugt keine Stimmung.
Seth ist natürlich nicht zu sehen und auch kein Hinweis auf ihn. Es ist sinnlos, ich weiß ja gar nicht, wonach ich suchen soll, wo ich ihn finden könnte. Ich werde wütend auf David und Benjamin, die mir so leicht helfen könnten und es nicht tun. Es nicht wollen. Vielleicht etwas dagegen haben, dass ich mit Seth ... Vielleicht ist dieser Niko, den Seth erwähnte, sein Freund. Dann könnten die beiden mir das sagen. Vielleicht haben sie ja selbst ein Auge auf Seth geworfen? Nein, das ist absurd, ich verzettle mich. Wirklich wütend sollte ich auf Seth sein. Der heute früh einfach gegangen ist, ohne ein weiteres Wort. Mir keine Handynummer gegeben hat, nicht gesagt hat, wo er wohnt oder wann er wiederkommt. Aber ich habe ja auch nicht gefragt. Ich kann es nur besser machen, wenn er wiederkommt. Sollte er wiederkommen. Nicht einmal das weiß ich.
Ich verlasse die Dorfstraße und überquere den Dorfbach auf einer Brücke, die nur aus einer Granitplatte besteht, ein schmaler Pfad verläuft auf der anderen Seite am Bach entlang. Dann wähle ich einen Weg den Hang hinauf. Eine kleine Kirche taucht auf, die von einer hohen Mauer umgeben ist. An einem Zaun hängt ein Banner: Heute ‚Jesus kommt‘- Gottesdienst. Ich grinse vor mich hin, während ich durch das Tor zur Kirche gehe. Dahinter liegt der Friedhof, an der Mauer ordnen sich prächtige alte Grabstellen, im hohen Gras liegen kleine Gräber, die alle akkurat mit Stiefmütterchen bepflanzt sind.
Als ich um die Kirche herumkomme, stelle ich fest, dass ich nicht allein hier bin. Benjamin kniet an einem Grab, zupft beiläufig Unkraut, schaut aber auf den Grabstein. Er wirkt ebenso einsam wie ganz bei sich. Ich hebe die Kamera, stelle Standardwerte ein. Dann blicke ich durch den Sucher, lege die Schärfe auf Benjamins Gesicht, löse aus. Was ein Fehler ist, Benjamin hört das Klicken. Er schaut sich um, sieht mich und sein Blick kehrt von einem fernen Ort zurück.
Ich gehe näher. „Hey.“
„Na Phillip?“
Ich trete neben Benjamin an das Grab, es ist mit Gänseblümchen, Glockenblumen, Vergissmeinnicht und anderen zarten Blumen bepflanzt. Anders als alle anderen. Der Grabstein ist aus dunklem Granit,
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