Phillips Bilder (German Edition)
schnell, rasiere mich und ziehe ein frisches T-Shirt über. Ich hänge mir den Rucksack über die Schulter und hole das Rad aus dem Schuppen. Die Dorfstraße gehört mir alleine, ich lasse mir den Wind um die Nase wehen, am Himmel sind einige Schönwetterwolken aufgezogen. Schon nach kurzer Zeit weiß ich nicht mehr, warum ich in Berlin nie mit dem Rad gefahren bin. Die Straße wird abschüssig, ich genieße den Fahrtwind, das Tempo, die vorbeifliegende Welt. Dann geht es bergauf, und ich strenge mich an, spüre meine Muskeln und auch das tut gut.
Ich lasse das Dorf hinter mir, folge der Landstraße, fahre einen Feldweg entlang, orientiere mich einfach an der Himmelsrichtung. An verwitterten Scheunenwänden blühen alte knorrige Holunder, in Vorgärten leuchten bunte Lupinen, Mohn und Ringelblumen, ein reizvolles Motiv, wohin ich blicke, aber ich halte nicht an.
Irgendwo stelle ich mein Rad an einem Baum ab, ein Bach gluckert, schlängelt sich zwischen Weiden hindurch. Ich trinke von dem kühlen Wasser, ein Auto brettert vorbei, dann bin ich wieder allein. Ich ziehe meine Schuhe aus, steige in den Bach und mache einige Fotos, bei denen ich die Kamera flach über das Wasser halte. Fotografiere die rissige Rinde der Weide, dahinter erstreckt sich ein Getreidefeld, fahlgrün und seidig schimmernd mit einigen blauen Kornblumen am Rand. Es verschwimmt zu einem reizvollen, gemäldehaften Hintergrund.
Als das kalte Wasser in meine Füße zwickt, steige ich aus dem Bach und laufe barfuß herum. Spüre die warme Erde unter meinen Fußsohlen, Zweige und Steinchen piksen.
Ich denke an Moritz, mit dem ich oft an irgendeinem Bach gespielt habe. Dämme und Schiffchen baute, Brücken und Stege. Nachdem wir David und Benjamin beobachtet hatten, verlor das Herumstreifen mit Moritz seine Unschuld. Ich genoss es, wenn er sein Shirt auszog, betrachtete seinen Hintern in den kurzen Hosen, schwitzte, wenn er mir den Arm um die Schulter legte.
Ich ziehe meine Turnschuhe wieder an und fahre weiter. Moritz’ Dorf lasse ich rechts liegen, fahre eine von Pflaumenbäumen gesäumte, bucklige Landstraße entlang und durch eine schmale Bahnunterführung. Mache so einen großen Bogen um unseren Vorort und nähere mich Neustadt über einen anderen Weg. Die Stadt ist klein, es reicht für zwei Gewerbegebiete mit Einkaufsmärkten und Autohäusern, ein paar Betriebe, ein Kino. Aber es gibt kein Einkaufszentrum, kein Theater und keinen Club.
Ich fahre durch eine Straße, in der jedes zweite Haus unbewohnt ist und der Putz bröckelt, dann nähere ich mich dem Marktplatz. An der Ecke steige ich vom Rad. Gegenüber ist der Laden meines Vaters, er würde mir meine Filme in einer Stunde entwickeln, aber ich zögere. Im Fenster hängen Fotobanner, keine Bilder von glücklichen Hochzeitspaaren und properen Babys. Mein Vater fotografiert für den örtlichen Verlag, macht Werbefotos und anspruchsvolle Aufnahmen für Hochglanzkalender. Natürlich gehört auch der Abiturientenball dazu und die Hochzeiten. Im Hinterhaus gibt es ein Fotostudio mit aller Technik, die mein Herz höher schlagen lässt. Und das Geschäft läuft gut. Wenn ich in den Laden einsteigen würde, hätte ich ein gutes Einkommen.
Ich schiebe mein Rad in eine Seitengasse. Ich will nicht, dass mein Vater mich sieht. Ich bin nicht stolz auf mich, aber ich will nicht mit ihm streiten, keine Vorwürfe hören und mich nicht entscheiden müssen. Es gibt noch einen Grund, warum ich nicht über den Markt möchte. Ich weiß nicht, ob unterdessen jemand anderes im Laden meiner Mutter ist. Oder ob er noch leer steht, was schlimmer wäre.
Zwei Straßen weiter ist ein Drogeriemarkt, ich gebe meine Filme ab und kaufe neue, auch schwarz-weiße. Im Bioladen kaufe ich Wein, Käse und Äpfel, Bier kaufe ich im Supermarkt. Dann fahre ich zurück. Als ich wieder auf der Landstraße bin, bin ich froh, die Stadt hinter mir zu lassen. Sie ist so eng, grau an manchen Ecken, spießig die Leute. Dass ich die Stadt so sehe, ist keine gute Basis, um ein Geschäft zu übernehmen, denke ich mal. Ich fahre schneller, genieße die rasch wechselnden Blicke auf Hügel in der Ferne, auf Bäume und in Gärten versteckte Häuser. Das alles gefällt mir, ich fühle mich frei und zu Hause und in der Welt meiner Kindheit. Mir gefällt auch wie David und Benjamin leben, ungezwungen und unbehelligt.
Und da ist noch Seth. Dass es zu früh ist, darüber nachzudenken, weiß ich. Dass es keine Option ist. Dass er nicht der Typ für
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