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des Naturzustands tritt, soll allerdings kein Gründungsvertrag
für den Staat hervorgehen. Es sollen nur die Grundsätze festgelegt werden, die für die »Grundstruktur« einer Gesellschaft
bestimmend sein sollen.
Wie die Aufklärer glaubt Rawls, dass der Mensch ein im Kern vernünftiges Wesen ist und dass man für alle akzeptable Gerechtigkeitsgrundsätze
finden kann, indem man sich einen Zustand vorstellt, in dem die Vernunft ungehindert zur Geltung kommt und die Menschen durch
rationale Überlegung die Maßstäbe wählen, die für ihr eigenes Leben gelten sollen. Dabei denkt Rawls zunächst an Vernunft
im Sinne von »Zweckrationalität«: Zu einem vorgegebenen Ziel sollen die besten Mittel gefunden werden. Das Ziel, das es hier
zu erreichen gilt, ist das einer wohl geordneten Gesellschaft.
Diejenigen, die sich in diesem vorgestellten Urzustand befinden, sollen alle die gleichen Voraussetzungen haben und keinerlei
äußerem |233| Zwang ausgesetzt sein. Sie verfolgen ihr Eigeninteresse, wissen aber gleichzeitig, dass sie dies innerhalb einer sozialen
Gemeinschaft tun müssen. Sie alle stehen unter dem »Schleier des Nichtwissens«, das heißt, sie wissen nicht, ob sie am erfolgreichen
oder am weniger erfolgreichen Ende dieser Gesellschaft stehen werden. Ein derart definierter Urzustand stellt nach Rawls nicht
nur sicher, dass sich die Menschen unparteiisch und vernünftig entscheiden, sondern vor allem, dass sie die Lage der sozial
Schwachen in ihre Überlegungen immer miteinbeziehen.
Mit dieser Konstruktion hatte Rawls den Spagat geschafft, das Eigeninteresse mit dem Interesse aller zu verbinden. Indem ich
mich hinter dem »Schleier des Nichtwissens« immer in die Rolle des sozial weniger Begünstigten hineinversetzen muss, weil
ich selbst in diese Rolle geraten kann, nehme ich auch immer den Standpunkt der Allgemeinheit ein, die daran interessiert
ist, dass niemand sozial ins Abseits gerät.
Der Urzustand beruht nach Rawls auf einem »Überlegungsgleichgewicht«, das heißt auf einem Gleichgewicht zwischen den verschiedenen
Gerechtigkeitsvorstellungen, die für die einzelnen Teilnehmer der Situation maßgebend sind. Im Urzustand wird versucht, das
Einzelinteresse mit dem allgemeinen Interesse zu verbinden, indem man zum Beispiel feste Überzeugungen von bloßen Meinungen
trennt und die Gemeinsamkeit mit den festen Überzeugungen herauszufiltern versucht.
Rawls glaubt, dass die Menschen bei einem solchen Abchecken gegenseitiger Interessen und Überzeugungen eine Strategie minimalen
Risikos verfolgen. Er nimmt hier Begriffe der ökonomischen Entscheidungstheorie zu Hilfe. Wenn ich zum Beispiel Aktien kaufe,
gibt es mehrere Möglichkeiten, nach denen ich ein Aktienpaket auswählen kann: Ich kann mich gegen den schlimmstmöglichen Fall
absichern und mich für Aktien entscheiden, bei denen kein dramatischer Kursanstieg, aber auch kein plötzlicher Kursverfall
zu erwarten ist. Ich kann aber auch ein großes Risiko wählen und Aktien kaufen, bei denen ein Riesengewinn, aber auch große
Verluste möglich sind. Die erste Strategie heißt »Maximin«-Strategie, abgeleitet von »maximum |234| minimorum«. Ich strebe hier als das Maximum des minimalsten, des schlechtestmöglichen Zustandes an im Gegensatz zur »Maximax«-Strategie,
in der ich auf den möglichst großen Profit spekuliere, auch wenn ich nachher mit leeren Händen dastehen kann.
Nach Rawls verfolgen die Menschen im Urzustand also eine »Maximin«- Strategie, weil sie nicht wissen, wo sie später auf der
sozialen Skala landen werden. Sie würden also solche Prinzipien wählen, die sie auch im Falle eines weniger erfolgreichen
Lebens absichern. So gelangt er zu seinen zwei berühmten Prinzipien der Gerechtigkeit:
»1. Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten haben, das für alle möglich ist.
2. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten müssen folgendermaßen beschaffen sein:
a) sie müssen unter der Einschränkung des Spargrundsatzes den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen
und
b) sie müssen mit Positionen und Ämtern verbunden sein, die allen gemäß fairer Chancengleichheit offen stehen.«
Mit dem ersten Prinzip stützt sich Rawls auf den klassischen Liberalismus. Alle Bürger haben Anspruch auf ein Maximum an Grundfreiheiten
und Bürgerrechten, sofern diese mit den Freiheiten der anderen vereinbar sind. Diese
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