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der Praxis auch verwirklicht sein. Diskriminierung aufgrund von Hautfarbe, Herkunft oder sozialer
Stellung darf es nicht geben.
Europäische Wohlfahrtsstaaten wie in Skandinavien stehen den Vorstellungen von Rawls zweifellos weit näher als das amerikanische
System, das dem ökonomischen Erfolg Vorrang vor sozialstaatlichen Maßnahmen gibt. Doch was die Eigentumsordnung einer Gesellschaft
angeht, ist er keineswegs auf gängige westliche Modelle festgelegt. So kritisiert er auch das Wohlfahrtssystem, weil es den
Bürger zum Empfänger staatlicher Leistungen macht und damit seine Selbstachtung untergräbt. Rawls bevorzugt eine Eigentumsordnung,
in der das Eigentum auch an Produktionsmitteln breit gestreut ist und jeder in die Lage versetzt wird, seinen Wohlstand selbst
zu erarbeiten.
In der Frage, wie sich der Bürger verhalten darf, wenn die Gerechtigkeitsprinzipien in einer Gesellschaft ständig verletzt
werden, |237| knüpft Rawls an eine angelsächsische Tradition an, die vom Aufklärer John Locke bis zur Protestbewegung gegen den Vietnamkrieg
reicht: Sind alle legalen Mittel erschöpft, so räumt Rawls dem Bürger das Recht zum zivilen Ungehorsam ein. Die Freiheitsrechte
des Bürgers haben letztlich auch gegenüber Ansprüchen des Staates Vorrang.
In seiner
Theorie der Gerechtigkeit
glaubt Rawls, dass es eine enge Beziehung zwischen den Gerechtigkeitsprinzipien und den wünschbaren individuellen Lebenszielen
des Bürgers gibt. Beide sind in der Verwirklichung der Vernunftnatur und der Selbstachtung des Menschen verbunden. Das Wohl
des Menschen besteht nach Rawls in der »erfolgreichen Ausführung eines vernünftigen Lebensplans«. In einem solchen gelingenden,
»guten« Leben sind die Gerechtigkeitsprinzipien ein Ansporn, einen in der Natur angelegten Gerechtigkeitssinn zu entwickeln.
Er ist für Rawls die Grundtugend, die den Menschen anleitet, andere Menschen im Sinne des Urzustandes als frei, gleichberechtigt
und in ihren Persönlichkeitsrechten unverletzlich zu behandeln. Mit anderen Worten: Ein selbstverwirklichtes Leben ist nach
Rawls gleichzeitig ein moralisches Leben im Dienst der Gerechtigkeit, weil dies der Natur des Menschen entspricht. Entsprechend
kommt er zu dem Schluss: »Um also unsere Natur zu verwirklichen, haben wir keine andere Möglichkeit als den Plan, unseren
Gerechtigkeitssinn als maßgebend für alle unsere Ziele zu bewahren.« In diesem Sinn wird auch das Gute als Ziel des Lebens
durch die Gerechtigkeitsprinzipien definiert.
Während viele große Philosophen das Erscheinen ihres Hauptwerks mit großen – und oft auch enttäuschten – Erwartungen begleiteten,
wurde Rawls vom Erfolg seiner
Theorie der Gerechtigkeit
überrascht. Nachdem er 1971 das Werk schließlich der Öffentlichkeit übergeben hatte, wollte er sich eigentlich anderen Themen
zuwenden, die ihn schon lange interessierten. Die
Theorie der Gerechtigkeit
, so meinte er, habe er vor allem als Diskussionsgrundlage für ein paar Freunde geschrieben. Doch der Erfolg des Buches überwältigte
ihn und änderte seine gesamte Lebensplanung.
|238| Das Werk wurde in mehr als dreiundzwanzig Sprachen übersetzt und alleine in den USA über zweihunderttausend Mal verkauft –
für ein philosophisches Buch eine riesige Zahl. Rawls sah sich durch diese Resonanz gezwungen, sich für den Rest seines Lebens
mit der Kritik und Weiterentwicklung seiner Theorie zu beschäftigen.
Doch noch wichtiger als die Folgen, die das Erscheinen des Werkes auf sein eigenes Leben hatte, war sein Einfluss auf die
Philosophie. Überall in der westlichen Welt erlebte die politische Philosophie eine neue Blüte. Während in Europa die Rawlsschen
Ideen häufig als Bestätigung empfunden wurden, lösten sie in den USA eine heftige Kontroverse aus. Neoliberale Philosophen
wie Robert Nozick oder Vertreter des Kommunitarismus wie Michael Walzer kritisierten vor allem die sozialstaatliche Ausrichtung
der von Rawls vertretenen Gerechtigkeitstheorie.
Mit seiner
Theorie der Gerechtigkeit
hat Rawls Philosophie und Öffentlichkeit davon überzeugt, dass es nicht genügt, die Demokratie als eine Selbstverständlichkeit
hinzunehmen und sich ansonsten mit komplizierten Spezialfragen zu beschäftigen. Wenn Demokratie geschaffen werden und Bestand
haben soll, dann muss Überzeugung an die Stelle der Gewohnheit treten. Es ist Aufgabe der Philosophen, an die Öffentlichkeit
zu treten, sich zu bestimmten Werten
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