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Grundrechte und Freiheiten des Bürgers
müssen für alle gleich sein und unangetastet bleiben. Im zweiten Prinzip geht es um zwei Aspekte der Gerechtigkeit, die mit
der Verfügung über materielle Güter zu tun haben: die Verteilungsgerechtigkeit, die besonders die sozial Schwächeren berücksichtigt,
und die Chancengerechtigkeit, die allen Bürgern den Zugang zu Ausbildung und gesellschaftlicher Einflussmöglichkeit öffnet.
Hier geht es also um die alten Werte der Gleichheit und Brüderlichkeit.
Der von Rawls neu gesetzte Akzent ist im Prinzip 2a enthalten, dem so genannten »Differenzprinzip« oder »Unterschiedsprinzip«.
Durch dieses Prinzip wird die Gesellschaft – im Gegensatz zum klassischen Liberalismus – verpflichtet, die Lage der sozial
Schwächsten immer als entscheidendes Kriterium im Auge zu behalten. In ihm kommt die »Maximin«-Strategie und die Idee des
Sozialstaats zum |235| Tragen: Wenn ich die Wahl habe zwischen einer Gesellschaft, in der ich sehr reich werden, aber auch unter die Armutsgrenze
fallen kann, und einer Gesellschaft, in der zwar der Wohlstand nach oben begrenzt, aber eine gute Mindestversorgung für die
Ärmeren garantiert ist, so fällt die Wahl auf die letztere. Es wird eine Gesellschaft gewählt, die die beste Mindestversorgung
garantiert.
Rawls fordert keine soziale Gleichheit, aber, im Sinne der Brüderlichkeit, eine Gesellschaft, in der die Ärmeren immer vom
Gesamtreichtum einer Gesellschaft profitieren. Er ist bereit zu tolerieren, dass die Reichen immer reicher werden, ja sogar
dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander klafft – doch nur unter der Voraussetzung, dass sich die materielle
Versorgung der Ärmsten dabei immer verbessert. Chancengleichheit und garantierte Bürgerfreiheiten alleine machen für Rawls
eine Gesellschaft noch nicht gerecht. Eigenschaften wie Gesundheit und Intelligenz, die einigen von Anfang an Vorteile verschaffen,
können wir uns nicht als Verdienst anrechnen. Die durch Geburt oder Milieu Benachteiligten müssen von der Gesellschaft immer
wieder ausgleichende Hilfen erhalten.
Die Erfahrung mit politischen Systemen hatte jedoch gezeigt, dass die verschiedenen Forderungen der Gerechtigkeit auch in
Konflikt miteinander geraten können. So konnte das Prinzip der Freiheit häufig nur dann uneingeschränkt aufrechterhalten werden,
wenn man soziale Ungerechtigkeiten in Kauf nahm. Umgekehrt war soziale Gerechtigkeit oft nur durch die Einschränkung von Freiheiten
erreicht worden. Auch hatten sozialstaatliche Maßnahmen immer wieder zur Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Effektivität
geführt.
Um diesen möglichen Konflikten zu begegnen, bringt Rawls die verschiedenen Prinzipien seiner Gerechtigkeitstheorie in eine
klare Rangordnung. Erst durch sie wird die »Gerechtigkeit als Fairness« verwirklicht. Dazu dienen die so genannten »Vorrangregeln«.
Im Grundsatz bleibt er ein Liberaler. Die erste Vorrangregel legt fest, dass Maßnahmen, die die Verteilung von Gütern betreffen,
in keinem Fall die Grundfreiheiten antasten dürfen. Das erste Gerechtigkeitsprinzip ist dem zweiten vorgeordnet und steht
nicht umsonst an erster Stelle: Im Zweifelsfall muss für die Grundfreiheiten entschieden |236| werden. Andererseits erhält nach der zweiten Vorrangregel die soziale Gerechtigkeit den Vorzug vor ökonomischer Effektivität.
Wenn man also bessere ökonomische Ergebnisse nur auf Kosten der sozial Schwachen erzielen kann, so muss man nach Rawls darauf
verzichten.
Die Gesellschaft, die Rawls sich vorstellt, soll also Freiheit, soziale Gerechtigkeit und ökonomischen Erfolg miteinander
vereinbaren, jedoch mit unterschiedlicher Priorität: Erst kommt die Freiheit, dann die soziale Gerechtigkeit und dann der
ökonomische Erfolg. Man kann diese Reihenfolge jedoch auch von der anderen Seite her beschreiben, um zu zeigen, dass Rawls
keineswegs eine nichteffiziente oder gar eine Mangelwirtschaft in Kauf nimmt: Man soll den Aufbau einer ökonomisch erfolgreichen
Gesellschaft ansteuern, diese dann durch eine gewisse soziale Umverteilung korrigieren, ohne dabei aber die Freiheitsrechte
anzutasten.
Die Gesellschaft, die diesen Prinzipien gemäß organisiert ist, ähnelt in vielen wesentlichen Punkten den modernen westlichen
Demokratien. Grundfreiheiten wie Glaubens-, Gewissens-, Rede- und Versammlungsfreiheit sollen aber in der Verfassung nicht
nur festgeschrieben, sondern in
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