Philosophenpunsch
die Gewissheiten, Dinge, die auf sie einstürmten, die ihr klar vor das innere Auge traten, die sie aber weder beschleunigen noch verhindern konnte.
Das war das Schlimmste: Sie war noch immer zur Untätigkeit verdammt. Sie erlebte alles passiv, konnte sich nicht an den Abläufen beteiligen. Sie flehte heimlich, dass sich das ändern würde, wartete mit stiller Zuversicht darauf, dass sie in eine höhere Stufe eintauchen konnte, wartete auf einen Befehl, einen Auftrag, den man ihr anvertraute.
Dann würde sie endgültig auf einer Stufe mit der anderen Seite stehen.
Eine solche Chance würde sie sich nicht entgehen lassen. Egal, wie auch immer der Befehl lauten würde, sie würde Punkt für Punkt jede Weisung erfüllen: ohne Zögern, ohne Rücksichtnahme, ohne schlechtes Gewissen und ohne Gnade.
3
»Das ist doch kein Weihnachten mehr. Jedes Jahr wird es schlimmer«, bemerkte Waldemar ›Waldi‹ Waldbauer, zweiter Ober im Café Heller, hastig eine Zigarette inhalierend, zu Leopold, während sowohl die Mitarbeiter der Firma ›Schick beim Frick‹ als auch die Philosophen langsam eintrudelten. »Beinahe jeden Tag von früh bis spät im Geschäft stehen, nur wegen der Weihnachtsfeiern. Ein richtiger Tschoch.«
»Wir kriegen’s ja bezahlt, und außerdem gibt’s … na ja, du weißt schon.« Leopold schlug mit der Hand kurz auf seinen Hosensack, in dem ein paar Münzen klimperten.
»Mit dem Trinkgeld ist das so eine Sache«, sinnierte Waldbauer. »Die Menschen haben heutzutage keine Marie.«
»Bei den Leuten vom Frick wirst du heute schon nicht so schlecht aussteigen«, konnte sich Leopold einen kleinen Seitenhieb nicht verkneifen.
»Ach was, die sind auch valat«, konstatierte Waldbauer emotionslos. »Die sind doch unlängst überfallen worden. Hat einer die Kassa gemacht. Es sind halt unruhige Zeiten. Da reißt du mit deinem Adventkranzschmäh noch am ehesten was.«
Leopold wollte sich auf keine Debatte auf der niederen Ebene des Brotneides einlassen. Sein Kopf war sowieso mit anderen Gedanken beschäftigt. Tante Agnes würde die Weihnachtsfeiertage bei ihm verbringen. Der Schock saß tief. Er würde sie am morgigen Vormittag vom Franz-Josefs-Bahnhof abholen müssen, daran führte wohl kein Weg vorbei. Aber was kam dann? Sie würde sich in seiner Wohnung häuslich einrichten. Sie würde alles in eine eigene Ordnung bringen, sodass er nichts mehr finden würde. Sie würde den Eiskasten vollstopfen, sodass er nach Weihnachten alles wieder haufenweise wegwerfen musste. Sie würde schneller Teil seines Lebens sein, als ihm lieb sein konnte. Die Zukunft war schrecklich nahe.
Um sich abzulenken, ging Leopold zum Philosophentisch. Man konnte ja ohne Weiteres einmal eine erste Bestellung aufnehmen. Ein Seitenblick auf den Frick-Tisch zeigte ihm, dass es dort bereits munter zur Sache ging. Die Mitarbeiter waren schon ziemlich vollzählig versammelt und taten sich an den leckeren Brötchen gütig, die Frau Heller zubereitet hatte. Außerdem standen einige Flaschen Sekt und Orangensaft für ein Begrüßungsgetränk bereit. Bei den Philosophen sah die Sache, was das leibliche Wohl betraf, wie erwartet etwas karger aus. Kleiner Brauner, kleiner Brauner, kleiner Brauner, Melange – und bitte ja nicht das Wasser vergessen! Die vier vorläufig anwesenden Herrschaften frönten ganz offensichtlich dem Prinzip der Schlichtheit.
Der pensionierte Gymnasiallehrer und Ex-Kollege von Thomas Korber, Rudolf Caha, winkte Leopold noch einmal kurz zu sich. »Bei der Feier da drüben könnte es ganz schön laut werden«, äußerte er seine Befürchtung. »Wie sollen wir unseren Gedanken da freien Lauf lassen? Haben Sie denn die Leute nicht woanders hinsetzen können?«
»Das Lokal ist voll«, erteilte Leopold achselzuckend Auskunft. »Bei der Billardpartie am ersten Tisch geht’s ums Weihnachtsgansl und hinten bei den Kartentipplern um die Zeche am Christtag beim Heurigen. Da herrscht auch keine Friedhofsruhe. Außerdem ist Winter, und die Zeiten werden schlechter. Wir müssen eben alle ein bisschen näher zusammenrücken.«
»Es wäre besser, wenn du dir ein Thema für den heutigen Abend überlegen würdest, bevor die anderen kommen«, machte ihn sein Nachbar Bernhard Klein gelassen aufmerksam. »Was du letztes Mal vorgeschlagen hast, nämlich die Kommerzialisierung von Weihnachten im Spiegel des Konsumdenkens unserer Zeit, erscheint mir doch ein wenig abgedroschen.«
»Es war nur ein Gedanke, nicht mehr«, rechtfertigte Caha
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